Maturarede an der Maturafeier des Wirtschaftsgymnasiums

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Begriffsbildung in der Bildung
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Ansprache an der Maturafeier der Abteilung W vom 26. Juni 2006

Liebe Maturae, liebe Maturi
Sehr geehrte Damen und Herren

Ich könnte die beiden Begriffe Maturae, Maturi noch etwas doofer artikulieren um zumindest akustisch anzudeuten, dass diese lateinischen Wörter – gerade hier, in diesem gymnasialen, wirtschaftsorientierten Bildungsambiente – etwas schief liegen. Zudem fehlt mir der prorektorale Sound von Hubert Imhof, was vom eigentlichen Problem aber ablenken könnte, denn einerseits steht ja WIRTSCHAFT für etwas sehr Dynamisches, Dominierendes, Lebendiges, anderseits gibt es nichts „Toteres“ als das LATEIN! Und von diesem stammen diese qualifizierenden Bildungsbegriffe!

Das Problem der Begriffssetzung wird nicht entschärft, wenn man die lateinischen Wörter übersetzt: „Maturus = Reif“ ist mehrfach ein dubioser Begriff, nicht nur hier, sondern beispielsweise auch in der Migros, wenn Sie auf der Suche nach „reifen Tomaten“ sind. Und bedenken Sie den Satz, den Sie morgen in der NLZ lesen könnten: „Der Rektor begrüsste die reife Schülerin!“ – Er ist mindestens assoziativ anregend, vielleicht für die NLZ passend, aber weniger hier für diese gymnasiale Feier.

Terminologisch könnten die Bildungstheoretiker bei den Wirtschaftstheoretikern etwas lernen, denn diese profilierten sich in den letzten Jahren mit viel Sprachwitz: Ein Betrieb, dem es schlecht geht, hat ein „Null-Wachstum“, aber er wächst anscheinend immer noch, mindestens linguistisch gesehen; und die geniale begriffliche Steigerung für einen Betrieb, der vor dem Aus steht, ist ein „Minus-Wachstum“, analog dem Pflänzchen, das sich nach kurzer Blüte wieder in die Erde eintauchend zurückentwickelt, wirtschaftlich kodiert mit „Gesund-Schrumpfen“! – Das wäre doch etwas für die Schule. Stellen Sie sich vor, liebe Maturae und Maturi, im letzten Zeugnis wäre nicht „Maturaerfolg gefährdet“ gestanden, sondern: „Achtung: Minuswachstum!“ Wobei dies ja nicht ganz richtig ist, auch hier nur eine Frage der Deutung und Perspektive, denn die Mangelpunkte, (Zitat): „erfreuten sich eines überstürzten Wachstums!“ Und ein Schüler, der nach zweimal provisorisch nicht promoviert wird, „schrumpft sich“ in einer tieferen Klasse „gesund“!

Begriffsbildungen in der Bildung sind nur bedingt ein linguistisches und rhetorisches Eldorado!

Sie erinnern sich vielleicht, wie vor 5 oder 6 Jahren plötzlich in Bildungsdiskussionen zwei oberitalienische Städte im Gespräch waren, Pisa und Bologna; und erst beim zweiten Schauen entdeckte man, dass PISA in Grossbuchstaben geschrieben war, also eine Abkürzung für ein Programm der OECD ist, international Schulleistungen miteinander zu vergleichen. In einem dreijährigen Turnus werden (Zitat): „das Wissen, die Fähigkeiten, die Kompetenzen, die für persönliches, soziales und ökonomisches Wohlergehen relevant sind, bei 15-jährigen Schülern gemessen und verglichen, in den drei Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften.“

Eindeutiger ist Bologna, womit tatsächlich die Stadt Bologna gemeint ist, in der 1999 die Bildungsminister aus 29 Ländern (mittlerweile sind es 40) eine Erklärung unterzeichneten, den so genannten „Bologna-Prozess“, mit dem Ziel, in Europa das Hochschulwesen zu harmonisieren, mittels, (Zitat): „Schaffung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse“. Und so wurden zwei Begriffe reanimiert, die nur noch im angelsächsischen Raum gebraucht worden waren, den „Bachelor“ und den „Master“.

Also, liebe Maturae und Maturi, wenn Sie dann – hoffentlich nach einer langen schöpferischen Pause, finanziert von Ihren Sponsoren oder Supportern (alt-deutsch: Eltern) – nach erfolgreichem Weiter-Studium den nächsten Abschluss feiern, erhalten Sie diesen ersten, leicht verständlichen akademischen Grad, den „Bachelor“, abgeleitet – natürlich aus dem Latein – von „bakkalaureus“!

Übersetzen müssen Sie dies nicht können und es hat wenig mit dem „Bachelor“ = engl. für Junggeselle zu tun: Das Bakkalaureat konnte man erstmals im Mittealter an der Pariser Universität erlangen und tatsächlich erstaunt es, dass diese mittel-lateinisch-französische Vokabel, ein Relikt eines echt antiquierten Bildungswortschatzes, wieder ausgegraben worden ist!

Zu „Master“ sage ich lieber nichts, denn diese Titelfindung ist wahrlich wenig ‚masterlich’, vor allem alles andere als originell! Es führt mich hingegen noch zu den Sprachkünstlern des Luzerner Bildungsdepartements: Beispielsweise ist diese Schule hier eine „Schule mit Profil“. Und tatsächlich fand in den letzten zehn Jahren eine profilierte Suche statt, was dies meinen könnte! Aber immerhin war diese Terminologie etwas origineller als der momentane Slogan der Luzerner Volksschulen, die sich in ihrem neusten Papier „Schulen mit Zukunft“ nennen, rhetorisch gleich brillant wie „weisse Milch“ und „nasse Pfütze“.

„Schulen mit Zukunft“ – klar, logisch! Da wäre doch wirklich etwas mehr Sprachwitz dringend notwendig gewesen, damit der Leser dieser wirklich interessanten Broschüre mindestens auf Seite 2 blättert – von insgesamt 24!

Auch neurologisch gesehen ist es bedeutend zu wissen: Erst wenn unser Hirn etwas Neues, Überraschendes entdeckt, wird es richtig in Betrieb gesetzt!

Also, eine neue, nur leicht modifizierte Variante auf Seite 1: „Volksschulen Kanton Luzern: Schulen ohne Zukunft!“ Da schaut man zweimal hin!

Zyniker würden anmerken: „Na endlich, sie haben es gemerkt!“ Aber auch diese blättern weiter auf Seite 2: „Natürlich nicht! Volksschulen Kanton Luzern: Schulen mit Zukunft!“ Seite 3: „Weil ...“ – und erst jetzt geht’s los und man vertieft sich in eine sehr anregende Argumentation!

Aber, liebe Maturae und Maturi, es ist eigentlich völlig egal für Sie, was hier auf diesem Bildungskarton steht und wie Sie sich nennen, wichtig ist auch hier die Message, bedeutend die Tatsache, dass Sie nun, nach erfolgreichem Studium, diese Schule verlassen können! Deshalb nennt man bei unseren nördlichen Nachbarn die Matura schlicht „Abitur“, auf Deutsch: „Abgang/ Weggang“; metaphorisch zwar weniger kreativ-evolutionär wie „Reife“, aber zumindest wirtschaftsorientiert effizient!

Sprache hat immer etwas Abstraktes, Symbolisches, Mehrdeutiges, unabhängig ob lateinisch, englisch, deutsch oder – denglisch, dieses nervende Deutsch-Englisch!

Deshalb, liebe Maturae und Maturi, bleibt mir am Schluss nur eines (in imitierter Mundart) zu sagen, euren Erfolg betrachtend und den grossen Luzerner Alt-Stadtammann zitierend: „Ech ha Freud!“

Denn Sie sind eindeutig Jugendliche mit Zukunft!

Ich wünsche Ihnen nur das Beste!

lic. phil. Dieter Werren, Lehrer für Deutsch und Pädagogik/Psychologie

aktualisiert am 29.07.2006, brief.gif (134 Byte) webmaster