Maturarede an der Maturafeier des Realgymnasiums

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Unverwechselbarkeit als stets gefährdete Balance
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Ansprache an der Maturafeier der Abteilung R vom 27. Juni 2006

Liebe Maturae, liebe Maturi
Meine Damen und Herren

Heute Abend haben wir etwas zu feiern, Ihre Matura.
Ein wahrhaft freudiges Ereignis, vor allem für Sie, geschätzte junge Damen und Herren.
Nach 6 langen Jahren und harter Vormaturazeit ist es nun endlich so weit.
Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Ausharren sowie zu Ihrem Erfolg: Ihnen gehört der Siegeskranz, Ihnen gehört hier und jetzt ein tosender Applaus.

Aber nicht nur Sie freuen sich, sondern auch Ihre Eltern, Verwandten, Freunde, Bekannten und vor allem auch Ihre Lehrerinnen und Lehrer. Alle haben in irgendeiner Weise Anteil am Erfolg und so geniessen wir alle den heutigen Abend gemeinsam mit Ihnen.

Vom deutschen Philosophen Gadamer stammt die Überlegung, dass die Arbeit uns trenne; dagegen, so schreibt er, „ist das Fest und das Feiern offenbar dadurch bestimmt, dass hier nicht erst vereinzelt wird, sondern alles versammelt ist.“ In der Tat widerspiegelt sich im Ritual dieser Feier die kleine und doch so grosse Welt der Schule, die ihrerseits als Institution unter anderen eingebettet ist in den Gesamtkosmos der Gesellschaft.

‚Reife’, Matura: Dieser Gedanke bildet das Leitmotiv unserer Feier, in der zwar Sie, meine lieben Maturae und Maturi im Zentrum stehen, in der aber auch so etwas wie eine Selbstdarstellung der Schule stattfindet.

Eigentlich müsste man von Reifungen sprechen, denn unser Leben besteht bekanntlich aus einer Unzahl einzelner Prozesse. Trotzdem halte ich mich an das Wort ‚Reife’ und versuche seinen Sinn wie folgt anzudeuten:

Reife hat damit zu tun, dass man nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen einsieht und spürt: ich bin unverwechselbar, dass man aber gleichzeitig auch einsieht und spürt: diese Unverwechselbarkeit ist auch bei den anderen, bei den Mitmenschen gegeben.

Reife heisst aber auch, dass diese Unverwechselbarkeit nicht die Qualität eines harten Kerns, etwa eines Diamanten hat, das wäre nämlich ein mineralogisch fehlgeleitetes Verständnis von uns selbst und von den anderen.

Vielmehr handelt es sich bei der angesprochenen Unverwechselbarkeit um eine Art Fliessgleichgewicht, das zwar als Struktur eine gewisse Identität aufweist, das aber insofern in einem ständigen Wandel begriffen ist, als stets neue Wasser durch diese Struktur fliessen. Reife beinhaltet demnach Statik und Dynamik zugleich: Ruhe und Beharrung auf der einen, aber auch ständiges sich Wandeln und auf dem Wegesein auf der anderen Seite.

Reife als schwierige und stets gefährdete Balance, als Balance, die wir nie in unseren sicheren Besitz bringen können wie etwa ein Zeugnis, sondern an deren Erhalt wir in allen Situationen austarierend mitzuwirken haben.

Wenn Cervantes seinem Don Quijote den Leitspruch voranstellt: „Der Weg ist besser als die Herberge“, dann kann ich ihm nicht ganz beipflichten, weil eben beides wichtig ist, der Weg in all seinen Formen, von der Schnellstrasse bis zu den Holz- und Irrwegen, aber auch die Herberge in all ihren Ausprägungen, angefangen vom Unterschlupf bis zum komfortablen Haus.

Beim Herausfinden der Wegart genau gleich wie bei der Auswahl der Herbergsbeschaffenheit sind wir auf uns selbst gestellt. Die Art und Weise, wie wir aussuchen und auswählen, zeigt etwas von jener Unverwechselbarkeit, die zu uns gehört und mit der wir immer wieder zurechtkommen müssen, weil sie nicht nur Chance, sondern auch Grenze bedeutet. Wenn es uns gelingt zu uns selber zu stehen ohne uns dem Neuen gegenüber zu verschliessen, dann zeigt sich so etwas wie Reife, eine Reife, die sich von Tag zu Tag wegen des ständigen Wandels in einem etwas anderen Lichte zeigt. Eine so verstandene Reife kann durchaus auch Glück bedeuten.

In einem übertragenen Sinne könnte man die skizzierte Vorstellung von Reife auch auf Institutionen anwenden: Eine Institution, z.B. die Schule oder die Wirtschaft, zeigt dann Reife, wenn sie zu der ihr eigenen und unverwechselbaren Aufgabe steht ohne auf neue Wege zu verzichten.

Die Schule hat zu bilden, Lernprozesse anzustiften und Wissen zu vermitteln. Die Wirtschaft hat Produkte zu generieren und Mehrwert zu schaffen. Wenn nun die Schule aber meint, sie müsse ihre Aufgabe in der Sprache der Ökonomie begreifen, dann steht sie nicht mehr zu ihrer Unverwechselbarkeit und sie befindet sich auf dem besten Wege zur Unreife, zur Entfremdung. Unreife, entfremdete Institutionen jedoch können kaum ein günstiges Klima bieten für die Reifung der Menschen, die in ihnen tätig sind.

Obwohl auch an unserer Schule die Versuchung gross ist sich – mehr als auch schon – dem ökonomischen Vokabular hinzugeben und so mit der Zeit nicht nur im Sprechen, sondern auch im Tun in Richtung Wirtschaft auszurutschen, obwohl diese Versuchung in der Tat beachtlich ist, wage ich zu behaupten, dass wir wegen Ihnen, liebe Maturi, liebe Maturae, trotz allem noch ein gesundes Eigenleben zu führen vermochten. Die Schule verdankt es nämlich von Jahr zu Jahr den neu eintretenden Jugendlichen, dass sie unverwechselbar bleibt.

So paradox es klingen mag: Ihnen, liebe Maturae und Maturi – und Sie stehen für alle Schülerinnen und Schüler – ihnen also verdankt die Institution Schule eine gewisse Immunität den verschiedenen Reformaufrufen gegenüber – Aufrufen, die von aussen an die Schule herangetragen werden und die, wenn man ihnen unbedacht folgen würde, die Unverwechselbarkeit unserer Schule gefährden können, ganz egal, ob sie nun von der Wirtschaft her kommen oder von der reinen pädagogischen Theorie.

Deshalb wollen wir Sie in Ihrer Unverwechselbarkeit freudig hochleben lassen, obwohl wir alle auch ein wenig traurig sind, dass Sie die KSL verlassen.

Liebe Maturae, liebe Maturi, meine Damen und Herren:
Es lebe der in den Reifungsprozess eingetauchte RG-Maturajahrgang 2006!
Freude herrscht, es darf und sollte gerockt werden.

Dr. Hans Widmer, Lehrer für Philosophie und Spanisch

aktualisiert am 29.07.2006, brief.gif (134 Byte) webmaster