Ansprache an der Maturafeier des Literargymnasiums

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Bildung ist keine Ware
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Ansprache an der Maturafeier der Abteilung L vom 22. Juni 2006

Liebe Kundinnen und Kunden

Sie stehen mit gefülltem Warenkorb am Ausgang dieses Bildungssupermarktes. Bezahlt haben Sie schon. Es fehlt noch der Kassenzettel. Lassen Sie sich vom Sales Manager noch für ein paar Minuten aufhalten, bevor Sie Ihren Einkaufswagen zurückstellen!

Sie haben sich alle Ihr individuelles Wissenspackage konfiguriert, alles gute Ware, qualitätsgeprüft und zertifiziert. Ich sehe zwar, dass sich einige mit Budget-Produkten begnügt haben. Aber immerhin: Es ist keine Wegwerfware. Und vergessen Sie nicht: Sie hat einen hohen Wiederverkaufswert! Bei einigen sehe ich ja sogar unsere Premiumprodukte: Bilingual Math, History Special und Super-Economics. Ein paar wenige distinguierte Damen und Herren haben sich für unseren Longseller Latinum entschieden. Gratulation! Unsere Produkte sind Investitionsgüter. Mit Ihnen steigern Sie Ihren eigenen Marktwert. Und Sie werden sehen, wie sehr sich Ihre Performance verbessern wird. Ich garantiere Ihnen: Mit Ihrem Return on investment werden Sie zufrieden sein. Ich danke Ihnen, dass Sie uns berücksichtigt haben und hoffe, dass Sie uns weiterempfehlen werden.

Einen Moment noch: Das alter ego des Sales Managers meldet Widerspruch an: das philosophische.

Liebe Maturae und Maturi

Ihr Warenkorb ist leer. Nicht dass Sie nichts gelernt hätten in all den Jahren, die Sie an der Kantonsschule verbracht haben. Doch hätten wir uns missverstanden, wenn Sie sich als Kundinnen und Kunden aufgefasst hätten. Das Wort „Kunde“ hat zwar eine schöne Etymologie, die in einem gewissen Sinne durchaus zu Ihnen passen würde. „Kunde“ kommt von „kennen“ und meint seit dem 16. Jahrhundert jenen, der regelmässig an einem bestimmten Ort einkauft und deshalb beim Ladenbesitzer bekannt ist. Doch in Zeiten des globalen Marktes konnotiert man mit dem Wort „Kunde“ anderes. Kunde ist nämlich jener Mensch, mit dem man ein Geschäft machen kann, und das ist praktisch jeder vom Säugling bis zum Greis, und glaubt man der Werbung, so könnte man die Haustiere auch gleich einbeziehen, denn „Katzen würden Whiskas kaufen“. Aber mit Verlaub, liebe Maturae und Maturi, obwohl ich New-Public-Management-trainiert bin, betrachte ich Sie nicht als Kunden. Und ich verstehe mich, wie meine Kolleginnen und Kollegen auch, nicht als Verkäufer. „Man hat’s gemerkt“, werden Sie vielleicht denken, „sonst wären wir ja als Könige behandelt worden.“ Darf ich Ihnen ein letztes Mal etwas abfordern, was man Königen eben nicht abfordern darf: eine Anstrengung, möglicherweise sogar eine Anstrengung wider Willen? Ich möchte Ihnen zeigen, welches der Unterschied zwischen Kunde und Schüler und zwischen Verkäufer und Lehrer ist, und ich möchte Sie davon überzeugen, dass es besser ist, wenn wir unser Verhältnis als Lehrer-Schüler-Verhältnis und nicht als Verkäufer-Kunden-Verhältnis sehen.

Betrachten wir einmal unser Verhältnis versuchsweise als Verkäufer-Kunden-Verhältnis! Als Verkäufer würden wir uns bemühen Ihnen qualitativ erstklassige Produkte anzubieten. Wir würden eine grösstmögliche Kundenzufriedenheit anstreben. All unsere Bestrebungen stünden aber unter dem Imperativ unseren Gewinn, den monetären Gewinn nota bene, zu maximieren. „Ist schon recht so“, werden Sie denken, „wenn die Qualität stimmt, dann darf auch Gewinn gemacht werden. Die Aussicht auf Gewinn ist sogar einer der besten Anreize gute Produkte anzubieten.“ Doch was sind „gute Produkte“? „Na, halt jene, die sich auf dem Markt durchsetzen können, mit denen sich Gewinn erzielen lässt.“ Sie merken, die Katze beisst sich hier in den Schwanz. Das Paradigma des Marktes gibt ausser dem Profit kein Kriterium dafür her, was als gut bezeichnet werden kann. Gut ist alles, mit dem Geld verdient werden kann.

Hier liegt genau der Grund, warum wir Sie nicht als Kunden sehen möchten. Denn wir möchten uns mit Ihnen unabhängig von einem zu erzielenden Profit darüber verständigen, was gut ist. Wir möchten mit Ihnen zusammen sogar darüber diskutieren, ob der Profit das letzte Kriterium sein soll. Dafür aber müssen wir das Markt-Paradigma verlassen und ins Schul-Paradigma umsteigen. Darf ich auch hier bei der Etymologie ansetzen? „Schüler“ kommt vom griechischen „schole“, und das meint Musse, unverzweckte Zeit, Zeit, in der der Mensch über sich nachdenken kann, Time out, wäre dafür die zeitgenössische Vokabel. Es ist jene Zeit, wo der Mensch als Mensch und nicht bloss als Kunde König ist.

Der Slogan „Der Kunde ist König“ ist aus der Perspektive des Dieners oder Untertanen formuliert, der die Wünsche des Königs von seinen Lippen abliest. Dem König wird alles gegeben in der Erwartung, dass danach die Goldstücke klimpern. Doch was machen Könige unter sich? Was machen sie in ihrer Mussezeit? „Sie beschäftigen sich mit schönen Frauen, fahren Autorennen und spielen Polo.“ Als Liebhaber der Weisheit frage ich aber: Was machen weise Könige, wenn Sie unter sich sind? Und hier haben wir es: Sie verständigen sich darüber, was gut ist. Gut nicht nur fürs Geschäft, gut nicht nur fürs Ansehen und fürs Aussehen, sondern gut in einem umfassenden Sinne. Sie begnügen sich nicht damit, ihren Trieben zu folgen, sie lassen sich die Massstäbe auch nicht durch gesellschaftliche Konventionen vorgeben. Nein, sie erheben den Anspruch sich über das Gute im Dialog mit andern freien Suchenden aufzuklären. Liebe Maturae, liebe Maturi, Sie wissen es seit der Lektüre von Platon: Die weisen Könige werden lange diskutieren und sie werden keine definitive Antwort finden. Doch dadurch, dass sie sich Antworten darüber, was in einem umfassenden Sinne gut ist, nicht vorgeben lassen, gewinnen sie Freiheit. Sie gewinnen Freiheit gegenüber den Zwängen ihrer Triebnatur. Sie entziehen sich dem Zwang von Ideologien, durchschauen bürokratische Engführungen, und können vielleicht sogar auf dem Markt ihre Selbstbestimmung bewahren.

Um die Freiheit des Einzelnen geht es letztlich, wenn vom humanistischen Bildungsideal die Rede ist, dem wir uns verpflichtet wissen, um die Freiheit, die ihre Grenze nur an der Freiheit des andern findet. Diese Freiheit liegt nicht in unseren Genen und sie entwickelt sich nicht mit zunehmendem Alter automatisch, sondern sie ist das Produkt eines Bildungsprozesses. Bei der Bildung geht es darum, den Menschen als Individuum stark, beziehungsfähig und aufgeschlossen für die Welt zu machen. Das hat ein Wilhelm von Humboldt schon ausgangs des 18. Jahrhunderts so gesehen. Freiheit war für ihn sowohl Zweck als auch Voraussetzung der Bildung. In seinem Werk „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792 schreibt er:

„Der wahre Zwek des Menschen … ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen.“ In seiner Zeit sah Humboldt eine freiheitsorientierte, vielfältige Bildung bedroht durch die Konventionen der Ständegesellschaft sowie durch eine rigorose Arbeitsteilung. Für die heutige Zeit könnte man die uniformierende Macht eines globalisierten Wirtschaftssystems und die Prägung durch die elektronischen Massenmedien als hemmende Faktoren identifizieren.

Hätten wir Sie als Kundinnen und Kunden gesehen, liebe Maturae und Maturi, hätten wir Ihre Freiheit zwar auch respektiert, Ihre Freiheit nämlich, bei uns einzukaufen oder auch nicht. Ihre Freiheit wäre aber nicht unser Anliegen gewesen. Es wäre uns gerade recht gewesen, wenn Sie sich durch unsere Werbung hätten manipulieren lassen und so ein Stück Freiheit verloren hätten. Einem humanistischen Bildungsideal verpflichtet war es uns im Gegensatz dazu ein Anliegen, Ihre Freiheit zu fördern, Ihnen zur Fähigkeit zu verhelfen Denkzwänge zu durchschauen, Herrschaftsmechanismen zu hinterfragen. Das soll so weit gehen, dass Sie unseren Unterricht einer Kritik unterziehen. Wir haben auch nichts dagegen, wenn sich unser Schüler-Lehrerverhältnis umkehrt, wenn Sie zu unseren Lehrerinnen und Lehrern werden, schon jetzt oder später.

So will ich Sie heute als Schülerinnen und Schüler und nicht als Kundinnen und Kunden verabschieden. Wir haben versucht Ihre Freiheit zu erweitern, indem wir Ihnen Kategorien an die Hand gegeben haben um die Welt zu verstehen, von der Mathematik, über die Naturwissenschaften, die Geistes- und Sozialwissenschaften, bis hin zu den Sprachen in ihrer Vielfalt. Im Sport haben Sie Ihren Körper gestärkt, in den musischen Fächern Ihre Kreativität entwickelt. Wir haben mit Ihnen aber auch die Frage erörtert, wo die Freiheit ihre Grenze findet, nämlich an der Freiheit des andern. Wir haben uns mit Ihnen als einzelne Menschen auseinandergesetzt, uns gefreut über Ihre Fortschritte und uns geärgert über Ihre gelegentliche Faulheit oder Unhöflichkeit. Ebenso haben Sie sich mit uns als Menschen auseinandergesetzt. Sie haben sich gefreut, wenn wir Ihnen neue Welten erschlossen haben. Sie haben sich geärgert über unsere Kleinlichkeit.

So verabschieden wir uns nun, anders als sich Kunden und Verkäufer verabschieden. Vielleicht mit mehr Wehmut, vielleicht mit grösserer Erleichterung. Gegenseitig sind wir uns jedenfalls Teil unserer individuellen Freiheitsgeschichte geworden.

Ihr Warenkorb ist leer. Denn das, was Sie vom Alpenquai mitnehmen, ist keine Ware, sondern das sind Sie selber, gebildeter als zuvor. Wir haben keine Rechnung aufgestellt, sondern überreichen Ihnen als Abschluss unseres formellen Lehrer-Schülerverhältnisses ein Zeugnis, das Ihnen unser Urteil attestiert, dass Sie jetzt reif sind für weitere Schritte in die Freiheit.

Dr. Hans Hirschi, Rektor Obergymnasium


1) Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [1792], Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, 4., korrigierte und mit einem Nachwort versehene Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, Bd. I, 64.

aktualisiert am 29.07.2006, brief.gif (134 Byte) webmaster