Maturarede an der Maturafeier des Realgymnasiums

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Der Verstand ist ohne Charakter und Mut nichts wert
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Ansprache an der Maturafeier des Realgymnasiums
vom 28. Juni 2004

Liebe Maturandinnen und Maturanden, liebe Eltern, liebe Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen

Als Deutschlehrer einer der Klassen, die hier für ihren Matura-Erfolg geehrt werden, darf ich mich für einige Minuten an Sie alle und insbesondere an die Maturandinnen und Maturanden wenden.

Als das Programm für den heutigen Abend öffentlich wurde und damit der Redner bekannt war, fragte mich ein Kollege allen Ernstes und auch vollkommen mit Recht, was denn das ungeheuer Wichtige sei, das ich Ihnen, liebe Maturandinnen und Maturanden, in letzter Sekunde noch unbedingt mitteilen müsse. Ob mir denn die letzten vier Jahre diesbezüglich nicht genügend Anlässe geboten hätten. Und er hat mich ebenso mit Recht gefragt, ob ich glaube, dass unser Unterricht bei Ihnen wirklich Spuren hinterlassen habe.

Ja, ich glaube daran. Nicht nur die seltenen spektakulären Einzelereignisse hinterlassen Spuren, Spuren hinterlässt vor allem der schulische Alltag. Deshalb will ich auch in dieser kurzen Ansprache nicht neue Spuren legen, sondern versuchen, Ihnen eine für mich sehr wichtige Spur sichtbarer zu machen.

Eine Spur, nicht diese ganz wichtige, wird physisch sichtbar im amtlichen Papier, das Sie, liebe Maturandinnen und Maturanden, in Kürze in Händen halten werden und das Ihnen bestätigt, dass Sie nun Maturae und Maturi sind.

Wie weiland Goethes Faust haben Sie allerlei Wissenschaften „durchaus studiert“, vielleicht sogar „mit heissem Bemühn“ und Sie sind ganz bestimmt klüger „als wie zuvor“. Ihre Kenntnisse und Fertigkeiten in den Naturwissenschaften, den Sozialwissenschaften, den Sprachen und der Kunst wurden in den vergangenen Wochen geprüft und Sie haben mit Ihren Prüfungsresultaten bewiesen, dass Sie klug sind, viel wissen, vernetzt denken und kommunizieren können.

Auch Faust ist diesbezüglich klug. Nicht einen solchen Mangel beklagt er, wenn er jammert, immer noch ein „armer Tor“ zu sein. Kenntnisse und Fertigkeiten und auch die so genannten Schlüsselkompetenzen sind halt nur die eine Seite von Bildung. Ebenso wichtig oder gar wichtiger ist die Gretchenfrage - die Frage nach der Religion.

Faust und Goethe haben ein pantheistisches Weltbild: Gott ist in der Natur und damit trägt auch der Mensch Göttliches in sich. Mephistopheles, der Teufel, verkörpert die zweite Seele in der Brust des menschlichen Exempels Faust. Indem Mephisto Faust mit Wein und Weib, Geld und Gold lockt, zwingt er Faust, den „kleinen Gott der Welt“, dazu, um eine verbindliche Position vor sich selbst und vor der Schöpfung zu ringen.

Was hat dieser faustische Kampf ums Mensch-Sein mit Ihnen zu tun?

Ich lese Ihnen dazu drei Lernziele aus dem gesamtschweizerisch gültigen Rahmenlehrplan vor. Achten Sie darauf, welche Ansprüche er bezüglich der Gretchenfrage an Sie, liebe Maturandinnen und Maturanden, stellt.

„Der Physikunterricht zeigt, dass sich physikalisches Verstehen dauernd entwickelt und wandelt, und hilft mit beim Aufbau eines vielseitigen Weltbildes. Durch Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen, aber auch in den Sinn des Machbaren können Wissenschaftsgläubigkeit oder Wissenschaftsfeindlichkeit verringert werden.“

„Die Jugendlichen erkennen den Widerspruch zwischen individueller und kollektiver, kurz- und langfristiger Zielsetzung in der Wirtschaft. Sie gewichten nach fachspezifischen und ethischen Prinzipien, um so ihrer menschlichen und staatsbürgerlichen Verantwortung im Alltag zu genügen.“

„Der Sprachunterricht fördert die Fähigkeit, das Denken zu entwickeln und zu systematisieren, sich auszudrücken und andere zu verstehen.“

Wer gut zugehört hat, hat festgestellt - dieser Satzanfang ist, wie Sie alle bemerkt haben, typisch für einen Lehrer; und noch typischer ist, dass er alle, die es eh schon gemerkt haben, noch einmal darauf hinweist – wer also gut zugehört hat, hat festgestellt, dass diese Lernziele zwar auch Kenntnisse und Fertigkeiten herausstellen – das ist das, was Sie, liebe Maturandinnen und Maturanden, mit der Prüfung bewiesen haben –, wesentlicher scheint mir aber in allen Lernzielen, die mit den Kenntnissen und Fertigkeiten verbundene Haltung – die Ihnen, liebe Maturandinnen und Maturanden, zugemutete Haltung – zu sein. Diese Ihnen zugemutete Haltung scheint mir vergleichbar zu sein mit der Faust zugemuteten göttlichen Standhaftigkeit.

Friedrich Schiller schreibt im achten Brief „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 1792:

„Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heisst, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsre praktischen Grundsätze zu berichtigen; der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten; die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer betrüglichen Sophistik (einer spitzfindigen Wortverdreherei) gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoss der Natur zurück – woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?“

Am 13. Mai 2004 überschrieb die Berner Zeitung den Leitartikel auf der Frontseite mit dem Titel: „Krieg der brutalen Bilder“. Das eine Bild, das die Zeitung abdruckte, zeigte die US-Soldatin Lynndie England. Sie schleppte im Bagdader Abu-Ghraib-Gefängnis einen nackten irakischen Gefangenen wie einen Hund an einer Leine über den Steinboden.

Daneben war ein Bild aus dem Video „Abu Mussab al-Zarqawi beim Abschlachten eines Amerikaners“ zu sehen. Das Bild zeigte den US-Zivilisten Nick Berg unmittelbar vor seiner Enthauptung im Irak.

„Woran liegt es, dass wir – obwohl wir doch heute noch viel mehr wissen als die Menschen zu Goethes und Schillers Zeit – „noch immer Barbaren sind?“

In seiner Antwort bezieht sich Schiller auf Kants berühmten Satz: „sapere aude!“ und kritisiert, dass den Menschen der Mut fehle. Er betont, dass Verstand nichts wert sei ohne Charakter, und zwar in doppeltem Sinne:

„… alle Aufklärung des Verstandes [verdient] nur insoferne Achtung […], als sie auf den Charakter zurückfliesst; sie geht auch gewissermassen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloss, weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zur Verbesserung der Einsicht erweckt.“

Charakter oder Mut ist für Schiller also sowohl die Voraussetzung für Verstand als auch dessen Ziel.

Gemäss Schillers Aufsatz „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“, 1784, ist solche Charakterstärke in ihrem Wesen und ihrer Wirkung der Religion vergleichbar.

„Gesetze […] drehen sich nur um verneinende Pflichten – Religion [oder Courage] dehnt ihre Forderungen auf wirkliches Handeln aus. Gesetze hemmen nur Wirkungen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft auflösen – Religion [oder Courage] befiehlt solche, die ihn inniger machen. Jene herrschen nur über die offenbaren Äusserungen des Willens, nur Taten sind ihnen untertan – diese setzt ihre Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens fort und verfolgt den Gedanken bis an die innerste Quelle. Gesetze sind glatt und geschmeidig, wandelbar wie Laune und Leidenschaft – Religion [oder Courage] bindet streng und ewig.“

Dürrenmatts Physiker Möbius hat sich seiner eigenen Göttlichkeit gestellt. Er hat seinen Individualismus abgestreift, seiner Familie einen verrückten Vater und sich selbst das Irrenhaus zugemutet, in das er geflohen ist, um seine Weltformel und das System aller möglichen Erfindungen vor den Menschen zu verbergen, weil er die Hybris, den frevelhaften Übermut der Menschen im Umgang mit ihrem Wissen und den technischen Möglichkeiten fürchtet. Sein Opfer und dasjenige von Einstein und Newton erweist sich aber als sinnlos, weil die verrückte Irrenärztin – ohne dass es Möbius bemerkt hätte – dessen Unterlagen kopiert hat und ihr weltumspannender Trust nun das System aller möglichen Erfindungen hemmungslos ausbeutet und die Welt zugrunde richtet. Dabei wird ihr von der Gesellschaft applaudiert, welche die Verrücktheit der „alten buckligen Jungfrau“ nicht durchschaut.

Liebe Eltern, Sie haben Mut und Charakter bewiesen, indem Sie die Maturandinnen und Maturanden gezeugt und auf ihrem bisherigen Lebensweg begleitet haben.

Wir Lehrerinnen und Lehrer haben möglicherweise Mut und Charakter bewiesen, indem wir uns der Herausforderung gestellt haben, die Maturandinnen und Maturanden zu bilden.

Sie, liebe Maturandinnen und Maturanden, die nicht, wie die Physiker, von muskelbepackten Geheimpolizisten bewacht werden, verlassen Sie nun mutig das Irrenhaus KSL, von dem wir Insassen wissen, dass sich hier drin durchaus vernünftige und mutige Menschen aufhalten.

Erinnern Sie sich immer wieder an Goethes, Schillers und Dürrenmatts Aufforderung, sich mit Ihrem Wissen verantwortungsvoll der Wirklichkeit zu stellen. Haben Sie den Mut, sich in Ihrem Dasein wie Faust immer wieder vom Göttlichen in Ihnen und um Sie herum verstören zu lassen.

Dabei hilft es, sich zwischendurch vor den Spiegel zu stellen und mit dem Gedicht von Erich Fried „Konstruktive Selbstkritik“ zu üben:

Meine Schwäche
war
mein Gefühl
der Überlegenheit

Das habe ich
überwunden
Jetzt bin ich
vollkommen

Liebe Maturandinnen und Maturanden, ich gratuliere Ihnen zu Ihren Leistungen und wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie den Mut haben, maturae und maturi zu sein.

Allen Anwesenden wünsche ich einen schönen Abend.

Iic. phil. Rolf Wirth, Fachlehrer Deutsch und Französisch

aktualisiert am 10.11.2004, brief.gif (134 Byte) webmaster