Maturarede an der Maturafeier des Kurzzeitgymnasiums

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Findet mich das Glück?
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Ansprache an der Maturafeier des Kurzzeitgymnasiums
vom 23. Juni 2004

Liebe Maturae, liebe Maturi, meine Damen und Herren

Es ist mir eine Ehre, heute ein paar Worte an Sie richten zu dürfen. Ich habe mir dazu eine Thematik vorgenommen, von der ich mir einen gewissen Aktualitätsbezug verspreche. Den Ausgang nimmt mein Gedankengang bei einem Buchtitel der beiden Künstler Peter Fischli und David Weiss. „Findet mich das Glück?“ steht da zu lesen, in weisser, handgeschriebener Schrift auf schwarzem Grund.

Der Inhalt dieses Büchleins nun ist von ganz besonderer Art, denn er besteht aus lauter Fragen. Viele dieser Fragen erscheinen auf den ersten Blick banal, alltäglich. Erst beim zweiten Hinsehen zeigt sich ihre oft hinterhältige Abgründigkeit. Tatsächlich sind es erstaunliche, verstörende, oft auch lästige Fragen, vergleichbar vielleicht mit jenen, die uns manchmal kleine Kinder stellen. Ich will Ihnen ein paar Kostproben nicht vorenthalten. Da lesen wir zum Beispiel: Kann man Müdigkeit nur mit Schlaf bekämpfen? – eine Frage, die sich vielleicht einigen von Ihnen während der vergangenen vier Jahre regelmässig am Montagmorgen stellte? – Es finden sich auch ziemlich umfassende Fragen wie z. B. Wem nützt der Mond? oder Gibt es die Welt auch ohne mich? – Wie wäre es mit einer eher bildungstheoretischen Problematik? Die Frage Nr. 322 lautet: Hat man meine Anpassung erfolgreich abgeschlossen? – An jede dieser Fragen liesse sich eine Reihe weiterer Fragen anschliessen. Jede dieser Fragen scheint zu mehr oder weniger tiefgründigen Reflexionen geradezu herauszufordern.

Vor allem die letztgenannte ergäbe doch einen ganz hervorragenden Ausgangspunkt für eine Rede zum heutigen Anlass. Hat man meine Anpassung erfolgreich abgeschlossen? – In der Tat lässt sich Bildung durchaus in dieser Weise verstehen, als Vorbereitung auf die Anforderungen unserer gemeinsamen Welt. Wobei sich hier gleich ein ganzes Heer von Anschlussfragen einstellt. Von besonderem Interesse wäre dabei wohl die Ausrichtung dieser Anpassung.

Eine Bildung zum Beispiel, die im Zuge vielfältiger Rationalisierungsmassnahmen auf das Wesentliche, bzw. Notwendige reduziert wird – was hierbei allerdings als Notwendigkeit bestimmt wird, welche Nöte in welcher Weise gewendet werden sollen, das bleibe für heute dahingestellt – nun, eine solcherart rationalisierte Bildung droht gewissermassen zur Zubereitung von Menschenmaterial für rein ökonomische Zwecke zu verkommen. Bei einer derartigen Ausrichtung wäre die Anpassung dann erfolgreich abgeschlossen, wenn die Kandidatin oder der Kandidat sich nach dem Prozedere reibungslos ins verlangte, z. B. auf Effizienz und Gewinnmaximierung ausgerichtete, Anforderungsprofil des Arbeitsmarktes einfügte. (Ist es das, was Bildung zu erreichen hat?)

Aber lassen Sie mich zur eher zuversichtlich stimmenden Ausgangsfrage zurückkehren. Sie erinnern sich: „Findet mich das Glück?“ lautete sie. Eine etwas seltsame Formulierung, nicht wahr! Findet mich das Glück? Sollte es nicht eher heissen Finde ich das Glück? oder sogar: Wie finde ich das Glück? Darüber lohnt es sich vielleicht nachzudenken.

Zunächst: Was ist denn Glück eigentlich? – Bereits für die alten Griechen war Glück nicht einfach gleich Glück. Sie unterschieden zwei Formen. Einerseits bedeutete ihnen Glück Zufall, die Gunst der Umstände (he eutychia), auch als Geschick oder Schicksalsmacht bekannt. Wir sprechen dabei von Glück haben. – Andererseits bezeichnete Glück auch die Fähigkeit, glücklich zu sein. Die Griechen nannten sie he eudaimonia, was soviel heissen könnte wie von gutem Geist beseelt sein. – Nun, was sagen uns diese wortgeschichtlichen Auskünfte in Bezug auf die gestellte Frage?

In beiden Varianten scheinen sie vorerst die Formulierung von Fischli /Weiss zu bestätigen: Glück als Zufall lässt sich weder herstellen noch gar herbeizwingen, sondern es fällt einem zu oder nicht. Es findet oder findet mich eben nicht, nach prinzipiell nicht ergründbarer Gesetzmässigkeit. Sie kennen vielleicht die entsprechenden Bilder: Fortuna, wie die Göttin dieses Glücks auch genannt wird, ist Herrin über das Schicksal, das sich oft dargestellt findet im Symbol des sich unablässig drehenden Rades. Dieser Göttin wurde schon immer in vielfältigen Formen gehuldigt. So beginnt etwa der erste Gesang der von Carl Orff vertonten Carmina Burana, einer Sammlung von mittelalterlichen Liedern und Tänzen, mit einer Beschwörung dieser Schicksalsmacht:

„O Fortuna, wie der Mond, so veränderlich, wächst du immer oder schwindest! [...] Schicksal, ungeschlacht und eitel! Rad du rollendes! Schlimm dein Wesen, dein Glück nichtig, immer im Zergehn!“

Ja, Fortuna ist eine schlimme Göttin! Denn das von ihr geschickte Glück erfahren wir als höchst veränderlich und vergänglich. Dieses Glück haben wir, auch wenn es uns für Augenblicke zufällt, buchstäblich nicht in der Hand. Wir können es weder einfordern noch festhalten. Solches Glück kann uns vielleicht sogar unverdientermassen zufallen. Es kann uns jederzeit wieder entfallen. Fortuna kann den Bettler zum König machen und den Herrscher zum Verurteilten.

Solange wir aber in der Gunst Fortunas stehen, können wir Glück empfinden, fühlen wir uns beflügelt, beschenkt, beseligt, begeistert. – Fischli/Weiss würden dazu vielleicht sagen: Das Glück hat uns gefunden! Geniessen wir es, so lange es unser ist! – Aber, vermag ein solches Glück, das stets durchsetzt ist mit der Angst vor dem Verlust, wirklich zu erfreuen? Ist es tatsächlich das, was die Alten eudaimonia – Glückseligkeit nannten?

„Gerade das Erhabenste und Herrlichste dem Zufall zu überlassen, wäre ein arger Missgriff.“ Das ist nun nicht etwa eine blosse Vermutung meinerseits, sondern eine gut verbürgte Aussage des Aristoteles. Glück sei nämlich das höchste aller erreichbaren Güter! Und er hat selbstverständlich recht damit, denn, wenn wir’s recht bedenken, tun wir doch alles, was wir tun, ausschliesslich um glücklich zu werden. Das Glück ist der letzte Zweck all unserer Bemühungen. Aber „Glück ist [nun Aristoteles zufolge,] kein Zustand [der Ruhe ...] sonst könnte es auch dem gehören, der ein Leben lang schläft“ , wie er meint. Vielmehr entspringe Glück dem „ethisch wertvollen Handeln, denn das Edle und Wertvolle tun, das gehör[e] zu den [höchsten] Werten“ . –– Epikur hingegen, der etwas jüngere Zeitgenosse des Aristoteles, sieht in der Lust Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens. Er verwehrt sich aber zugleich dem Vorwurf, er meine damit das blosse Geniessen oder gar die Lüste der Wüstlinge. Glück beruhe vielmehr auf der „Unerschütterlichkeit der Seele“ und diese wiederum gründe in der rechten Einsicht, denn allein „aus ihr entspringen alle Tugenden, und sie [die rechte Einsicht] lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben ohne verständig, schön und gerecht zu leben“ .

Beide fordern sie also im Grunde ganz Ähnliches: Handle und denke in der rechten Weise, sei ein guter und vernünftiger Mensch und das wahre, das beständige Glück wird dir gewiss sein! Sei es im aristotelischen Sinn als aktives Leben in der Gemeinschaft, sei es in stiller Betrachtung, wie Epikur vorschlägt, es ist dieses selbst erarbeitete, und damit unzerstörbare Glück erst, das den Namen eudaimonia, Glückseligkeit verdient.

Das Glück scheint sich also durchaus zähmen zu lassen? Auch wir sprechen doch von glücken im Sinn von gutem Gelingen! – Ob das Glück mich findet oder nicht, scheint damit ganz wesentlich davon abzuhängen, wie ich mich selbst darum zu bemühen weiss.

In ganz ähnlichem Sinn empfiehlt uns denn auch die französische Mathematikerin Emilie du Châtelet in ihrem Discours sur le Bonheur, geschrieben im Jahr 1747, die Pflege einer ganz besonderen Neigung. Es ist, wie könnte es anders sein, die Neigung zu den Wissenschaften. Gesundheit und Jugend, Wohlstand und Ehre würden sich im Laufe des Lebens verflüchtigen, meint sie. Allein die Wissenschaft verspreche ein dauerhaftes Glück. Die Pflege jener Neigung zur Wissenschaft lege nämlich das Glück vollkommen in unsere eigenen Hände. Aber abgesehen davon, dass wir uns dabei vor dem Ehrgeiz zu hüten hätten, sei besonders auch das Folgende zu beachten: „Um glücklich zu sein“ – schreibt sie – „ist es nötig, frei von Vorurteilen, tugendhaft und bei guter Gesundheit zu sein, Neigungen und Leidenschaften zu haben und für Illusionen [!] empfänglich zu sein, denn den Grossteil unserer Vergnügen schulden wir der Illusion, und unglücklich ist, wer sie verliert.“ Damit ergänzt sie die Vorschläge der beiden gestrengen Herren aus der Antike in mindestens einem entscheidenden Punkt. Sie weist auf eine der wesentlichen menschlichen Fähigkeiten hin, auf die Fähigkeit zur Illusion, zur Selbsttäuschung also. – Seltsam – aber mir scheint, sie hat damit ebenfalls recht. Ist es nicht diese Fähigkeit zur Illusion, oder mit etwas weniger negativem Beigeschmack gesagt, ist es nicht die Fantasie, die uns über die Wüsten des ab und zu wohl unvermeidlichen Unglücks hinwegzuhelfen vermag? Die Fantasie, die auch noch das geringste Wohlgefühl zu grossem Glück verklären kann?

Mme du Châtelet beschliesst ihren Discours mit dem folgenden Rat: „Vor allem seien wir uns im Klaren, was wir sein wollen; entscheiden wir uns für den Weg, den wir für unser Leben einschlagen wollen, und versuchen wir ihn mit Blumen zu säumen.“

Die allerletzte Frage im Buch von Fischli/Weiss ist eine Variante der Titelfrage: „Sucht mich das Glück am falschen Ort?“ Nun, das bleibt eine Frage, die sich wohl doch jeder allgemeinen und endgültigen Beantwortung entzieht. Aber, wie auch immer wir uns das Glück vorstellen mögen – ob als Macht des Schicksals, ob als reinen Zufall oder als Resultat eigener Bemühung und Fantasie – zwei Dinge scheinen mir doch ziemlich sicher zu sein:

Erstens: In dieser Stunde hat das Glück am richtigen Ort gesucht - und gefunden! Ich gehe nämlich davon aus, dass einige von Ihnen sich zurzeit sehr glücklich fühlen. Vielleicht liegt das daran, dass Sie das Glück in der rechten Weise eingeladen haben?

Zweitens vermute ich, hoffentlich ebenfalls zu recht, dass Sie noch viel von diesem Glück ohne Angst und Reue erleben werden, denn Sie haben sich für ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben in dieser unserer gemeinsamen Welt die allerbesten Voraussetzungen erarbeitet. (Das wäre jedenfalls ein diskutables Bildungsziel!)

So bleibt mir nur noch eines: Ihnen allen ein Herz voller Fantasie, einen klaren Kopf beim Entscheiden – und dann einen blumengesäumten Weg durch ein gelingendes, glückliches Leben zu wünschen! Ich danke Ihnen.

Lic. phil. Heidi Pfäffli, Philosophielehrerin

aktualisiert am 10.11.2004, brief.gif (134 Byte) webmaster