Maturarede an der Maturafeier des Realgymnasiums

 

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Verbunden denken
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Was ist die Besonderheit einer Maturandin oder eines Maturanden? Diese Frage müsste man sich eigentlich stellen dürfen angesichts des großen Aufwandes auf dem Weg zum heutigen Tag: Lernende und ihre Eltern, Lehrpersonen und Schulverantwortliche auf allen Rängen haben eine Menge Energie eingesetzt bis dieses Ziel erreicht war: intellektuelle Anstrengung war notwendig, aber auch emotionales Engagement, Fleiß und Verzicht. Und jetzt? Was ist das Besondere, was macht die Eigenheit einer Maturandin aus?

Wenn Sie sich die Prüfungen der vergangenen Wochen vor Augen halten, dann sind die Ge-danken wohl auf Kompetenzen und auf Wissen verwiesen. In beiden Bereichen haben Sie sich einiges angeeignet, was Ihnen nun zur Verfügung stehen sollte. Das Gymnasium, so will es die Zielsetzung, soll in erster Linie jene Fähigkeiten vermitteln, welche für ein erfolg-reiches Studium an einer Universität notwendig sind. Das Wissen, welches Sie sich in den letzen Jahren angeeignet haben, soll es erlauben, Gegenstände oder Probleme sachkundig zu beschreiben und zu beurteilen, zumindest müssten nun vielfältige Anknüpfungspunkte vor-handen sein. Ich versuche es mit einem Beispiel: Sie alle kennen dieses Gerät – ein soge-nanntes Handy. Dazu können Sie heute eine Menge sachkundiger Überlegungen assoziieren, Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten erlauben es, auch Dinge unter der Oberfläche zu beschrei-ben, und zwar auf vielfältige Weise.

- Erster Zugang: Ungefähr zur Zeit, als die meisten von Ihnen geboren wurden, gab es von diesen Geräten erst die Vor-Vorgängergeneration. 1984 wurde in der Schweiz das Natel-B Netz in Betrieb genommen. Die Geräte waren so groß wie kleine Koffern, 12 Kilogramm schwer, 10'000 Franken teuer, und das Monatsabonnement kostete 130 Franken.

- Zweiter Zugang: Das Gerät baut Funkverbindungen, die Ausbreitung der Signale erfolgt wellenförmig. Es geht um Frequenzen, Sie könnten also Kurven diskutieren, nach den Schnittpunkten mit der x-Achse und nach den Maxima fragen. Wo ist die erste Ableitung null? Sie könnten sich über das Frequenzband Gedanken machen und über die Frage, was passiert, wenn sich der Mensch beim Telefonieren bewegt. Und es ist Ihnen wahrscheinlich klar: Wer sich schnell bewegt, sagen wir mit 250 oder 300 km/h direkt in Richtig Bassistati-on, wird bald einmal keine Verbindung mehr haben; der Dopplereffekt verändert aus Sicht des Empfängers die Wellen.

- Dritter Zugang: Das kleine Gerät schafft große Probleme, es gibt Rechtsfragen, welche so kompliziert sind, dass sogar das Bundesgericht damit beschäftigt werden musste. Wer darf wann und unter welchen Bedingungen eine Antenne in die Landschaft bauen? Soll man da-für einen Kirchturm, ein Minarett oder ein Friedhofkreuz verwenden dürfen, oder wider-spricht dies dem Sinn des Religiösen?

- Vierter Zugang: Das Gerät läuft mit einem Akku, es verbraucht Energie. Der Erhaltungs-satz ruft unbarmherzig in Erinnerung, dass Energie am Schluss nicht einfach im Nichts ver-schwunden ist. Die Säfte in den kostbaren Zellen unseres Gehirns nehmen vielleicht auch etwas davon auf, und es kommt zu irgendwelchen chemischen Prozessen. Wie lautet die Reaktionsgleichung? Wie verhält es sich mit den Produkten? Was geschieht, wenn langfris-tig ein paar Synapsen taub bleiben?

- Fünfter Zugang: Lesen Sie einmal ein SMS eines Vierzehnjährigen und achten Sie auf die Sprache. Ganz ungewöhnliche Wörter und Wendungen werden verwendet und offenbar auch verstanden. Welche Konsequenz ergibt sich, falls ein Zusammenhang zwischen Sprache und Bewusstsein besteht? "Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstan-des durch die Mittel unserer Sprache", schrieb Ludwig Wittgenstein vor etwa 50 Jahren.

Ein alltäglicher Gestenstand und eine ganze Menge von Zugängen, welche es erlauben, die-sen Gegenstand zu beschreiben. Fünf davon habe ich angedeutet: Geschichte, Physik, Recht, Biologie, Sprachlehre. Als Maturandinnen wäre es Ihnen heute ein leichtes, das Phänomen aus weiteren Blickwinkeln zu deuten; zum Handy gibt es auch Fragen und Beschreibungen aus der Chemie zum Beispiel, oder aus der Philosophie, der Soziologie, der Geographie, der Wirtschaftskunde und der Psychologie. Kaum ein Fach, das in ihren Maturitätszeugnissen aufgeführt ist, bliebe ausgespart.

Angesammeltes Wissen und vielfältige Zugänge für sich allein würden indes ein amtliches Reifezeugnis noch nicht rechtfertigen. Sie machen deshalb das Entscheidende und Unter-scheidende einer Maturandin noch nicht aus. Die Erwartungen gehen weiter: Intellektuelle Reife misst sich an mehr als an der Menge des Gewussten - die Welt stellt andere Anforde-rungen als ein Fernsehquiz. Intellektuelle Reife zeichnet sich aus durch die Bereitschaft, mehrere verfügbare Aspekte zu verbinden. Wir sind heute hier und feiern Ihre Abschlüsse, weil wir Ihnen diese Fähigkeit zum Verbinden und Vernetzen zutrauen. Das Gymnasium hat ein breites und vielfältiges Fächerspektrum, damit Sie breit und vielfältig analysieren lernen. Ein Gleis für sich allein reicht nicht. Was nützt uns die Ökonomin, welche ein neues Produkt nur auf die Marktchancen hin prüft und keine Ahnung hat von Ökobilanzen? Was nützt uns der Ingenieur, der die Breitbandübertragung noch breiter macht, der sich aber keine Rechen-schaft gibt über die Verfügbarkeit von elektrischer Energie in Privathaushalten in Asien oder Afrika? Was wir brauchen, sind Leute, welche verschiedene Zugänge verbinden, welche bereit sind zum vernetzten Denken.

Dieser Erwartung werden Sie künftig stärker als bisher ausgesetzt sein. Ihre Generation hat von den vorangehenden eine Menge gesellschaftlicher Aufgaben geerbt, welche zu lösen sind; ich denke an Stichworte wie Energiebilanz, Ressourcenverteilung, Generationenverträ-ge, Verteilungsgerechtigkeit u.s.w. Es gibt einen weit reichenden Konsens, dass diese Zu-kunftsprobleme einzig zu lösen sind, wenn wir im Kleinen wie im Großen das Gebot der Nachhaltigkeit beobachten: Verantwortliches Handeln muss ökonomisch, ökologisch und sozial verträglich sein. Schon allein die Tatasche, dass es drei Parameter sind – ökonomisch, ökologisch, sozial – verweist auf das Wesentliche: Um verbundenes und vernetztes Beurtei-len und Handeln geht. Die Vorgabe gilt in großen wie in kleinen Zusammenhängen. Die Be-reitschaft und die Fähigkeit zur mehrseitigen und mehrdimensionalen Beurteilung hilft Konflikte zu vermeiden. Wer sich wenigstens versuchsweise die Sicht des anderen zu eigen macht, wird in dieser Zeit nicht zuschlagen.

Meine Sicht auf die Vernetzung ergibt sich nicht von selbst, sie ist zu erringen. Erich Fromm hat – eher pessimistisch – geschrieben: "Die Schule ist bemüht, jedem Schüler eine bestimm-te Menge an Kulturbesitz zu vermitteln, und am Ende seiner Schulzeit wird ihm bescheinigt, dass er zumindest ein Minimum davon hat". Ich bin überzeugt, dass Sie Ihnen heute weit mehr als dieses Minimum zur Verfügung steht, dass ihnen vielmehr das Potenzial zur Vertie-fung und vor allem zur Vernetzung mitgegeben ist. Sehr geehrte Diplomierte: In den ver-gangenen Wochen haben Sie in Prüfungen gezeigt, was Sie wissen und was sie können. Un-ter anstrengenden Bedingungen haben Sie Kompetenzen unter Beweis gestellt, und erwiesen, dass Sie für die nächsten Schritte reif sind. Ich beglückwünsche Sie zu allem, was Sie geleis-tet haben und zu allem, was Sie jetzt verstehen. Freuen Sie sich, holen Sie Luft, und gehen Sie weiter auf einem herausfordernden und beglückenden Weg, auf dem Weg vom Teilwis-sen in Mathematik, Deutsch, Chemie, Philosophie und so weiter hin zur vernetzten, kriti-schen Einsicht.

Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal ein Problem zu analysieren haben – vielleicht denken Sie auch daran, wenn Sie das nächste Mal ein Handy benützen.

Prof. Dr. Markus Ries
Rektor Universität Luzern

aktualisiert am 29.6.2003, brief.gif (134 Byte) webmaster