Ansprache an der Maturafeier des Literargymnasiums

 

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Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (Aristoteles)
- aber ohne Teile kein Ganzes
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Liebe Maturae und Maturi
Liebe Eltern
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Geschätzte Gäste

Auf der Einladung zur heutigen Feier sieht man einen jungen Menschen ins Wasser springen. Schwungvoll und voller Energie scheint dieser Sprung von einem Element ins andere. Und wenn ich nun Sie, liebe frisch Gereifte, so vor mir sehe, dann strahlt mir von Ihnen eine solche Energie entgegen die zeigt, dass Sie bereit sind zum Sprung, zum Sprung vom Alpenquai und einem wohlbehüteten Umfeld in einen nächsten Lebensabschnitt voller neuer Möglichkeiten, Herausforderungen und Überraschungen.

Sie alle haben in den letzten Tagen und Wochen viel gearbeitet, geschwitzt oder vielleicht auch gelitten, ein Fach nach dem andern mit Prüfungen hinter sich gebracht und – mindestens für den Moment - abgelegt. Sie werden heute sozusagen als „Lohn“ für Ihren Einsatz Ihr Maturazeugnis erhalten.

In diesem Zeugnis finden Sie viele Zahlen, diese bedeuten Noten, die Noten, welche Sie in den einzelnen Fächern und Fächergruppen erreicht haben, fein säuberlich eingetragen als eine Art Symbole für das, was Ihnen als Wissen und Können - oder moderner ausgedrückt als Kompetenz - in den einzelnen Fächern zugeschrieben wird. Diese vielen Einzelzahlen sagen zwar durchaus etwas aus, aber doch längst nicht alles. Ich denke nicht an den mehr oder weniger grossen Aufwand der dahinter steckt: Bekanntlich muss der eine für eine mittelgute Note einen grossen Aufwand betreiben, die andere eben einen sehr geringen ...  das ist das Leben, aber darum geht jetzt es nicht. Ich denke vielmehr daran, dass die von Ihnen erfolgreich absolvierte Maturaprüfung mehr ist als lediglich die Summe aller absolvierten Einzelprüfungen und das Eintrittsticket für die Universität.

Ihre Maturaprüfung ist somit nicht bloss Symbol für die Summe von isoliertem Wissen in den einzelnen Fächern. Die gymnasiale Ausbildung – und damit das, was Sie nun in Ihrem Rucksack mitnehmen dürfen - sollte mehr sein. Oder viel allgemeiner: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – eine Erkenntnis welche gerade in unserer Zeit als modern und neu in Anspruch genommen wird und welche u.a. auch Ihrer gymnasialen Ausbildung zu Grunde liegt. Sie aber wissen, dass diese Erkenntnis nicht neu ist, sondern Aristoteles zugeschrieben wird und damit aus einer Zeit weit vor Christi Geburt stammt. Nicht alles Moderne ist neu ...

Das Ganze und die Einzelteile – oder die Einzelteile und das Ganze? Damit wollen wir uns etwas weiter befassen.

Vorab ein banales Beispiel – im Banalen lässt sich ja oft der wahre Kern der Sache besonders gut erkennen: Bekanntlich machen elf individuell gute Fussballspieler noch kein erfolgreiches Fussballteam aus – aber für ein erfolgreiches Team braucht es elf individuell gute Spieler ... Übertragen auf Ihre Situation: Das Wissen und Können in einem einzelnen Fach ist als Grundlage wichtig und unabdingbar für ein erfolgreiches Ganzes, aber für sich allein abgelegt, entfaltet es nicht die Wirkung, die erreichbar wäre. Oder noch anders: Es kann Wirkungen entfalten, deren Konsequenzen weder kontrollierbar noch verantwortbar sein könnten. Dürrenmatts Physiker sind nach wie vor aktuell!

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Ein abstrakter Gedanke – ganz ausgezeichnet zeigen lässt sich dieser bildlich mit Ursus Wehrlis Konvertierung traditioneller und zeitgenössischer Kunst, veröffentlicht in seinem seinem Bildband  „Kunst aufräumen“:

Ursus Wehrli, 2002

Sie sehen ein Bild mit klar abgegrenzten, in sich geschlossenen Einzelpartikeln, welche - perfekt geordnet  nach Grössen und Farben - dem Betrachter ein Gefühl von Ruhe, Ordnung und Logik vermitteln, ein Bild mit exakt beschreibbarem Aufbau, in welchem jedes Teilchen innerhalb einer Gruppe seinen definierten Platz hat.

Unser durchaus fragwürdiger Zeitgeist, der die verschiedensten Aspekte des Lebens in mess- und vergleichbare Parameter giesst, um entsprechende Vergleiche - neudeutsch „benchmarks“- anzustellen um damit scheinbar Qualität und Rationalität zu gewährleisten, sieht folgende Elemente resp. Einzelteile:

5 grosse und 11 kleine rote, 38 kleine weisse, 1 kompakt zusammengesetztes, grösseres weisses, 4 ringförmige schwarz-weisse, 16 kleine grüne, 16 kleine gelbe, 7 kleine blaue sowie 1 schwarzes Teilchen, insgesamt 99 Einzelteile.

Gehen wir einmal davon aus, die einzelnen Farben seien einzelne Fächer- oder Fächergruppen. Das Bild, das Sie nun vor sich haben, entspricht der Summe der Fächer. Das Bild lässt sich in seinem Aufbau klar definieren, es ist in Zahlen leicht erfassbar und mit entsprechenden andern Bildern vergleichbar.

Nun richten wir unsern Blick auf das Ganze, das mit diesen Einzelteilchen erreichbar wäre:

Niki de Saint Phalles, Volleyball,1993

Ist es nicht erstaunlich: Dieselben Einzelteilchen, diesmal aber nicht jedes für sich klar abgegrenzt und in sich geschlossen, sondern ineinander verwebt und verbunden – und es ist ein lebendiges Ganzes entstanden, ein Ganzes voller Ausdruckskraft und Leben. Es handelt sich um das Bild von Niki de Saint Phalles, Volleyball, 1993. Das Bild spricht für sich – ob es einem gefällt oder nicht, unverkennbar strahlt es Energie und Leben aus, welches der zuerst gezeigten Darstellung abgeht.

Dieses Bild zeigt, dass das Ganze weit mehr sein kann als die Summe der Einzelteile oder übertragen auf Sie, die Summe des erworbenen Einzelwissens miteinander verknüpft, Synergien schaffen kann, welche viel weiter gehen und ganz andere Dimensionen annehmen können.

Gehen wir auf drei Gesichtspunkte betreffend Verhältnis des Ganzen zum Einzelteil besonders ein:

1. Auf das „Einzelteilchen“ Fachwissen

2. Auf das „Einzelteilchen“ als untaugliche Grundlage zur Beurteilung eines Ganzen

3. Auf das Individuelle als „Einzelteilchen“ und die Gemeinschaft als Ganzes

·  1: Das „Einzelteilchen“ (Fach)wissen:
Jedes Teilchen des ersten Bildes ist in sich geschlossen und als Grundlage für das im zweiten Bild gezeigte Ganze notwendig und unentbehrlich. Auf unsere Situation hier übertragen, können wir Ihr Fachwissen mit den Einzelteilchen vergleichen und vier Aspekte des Begriffs Wissen näher beleuchten:

Wissen ist
- eine unabdingbare Grundlage des Verstehens, unentbehrlich, wenn es darum geht, etwas in ein Ganzes einzuordnen, unverzichtbar in jedem Sachgebiet und nicht ersetzbar durch den in unserer Zeit so oft strapazierten Begriff der Kompetenz. Wissen ist neben Können und Erfahrung Grundlage jeglicher Kompetenz.

Wissen ist aber
- auch eine notwendige Grundlage für kritisches und verantwortliches Handeln - eine Voraussetzung für ein funktionierendes Zusammenleben.

Wissen ist
- im weiteren eine Grundlage zur Motivation oder Lust, sich vertieft in ein Sachgebiet einzugeben und damit auch eine der nicht wegzudenkenden Voraussetzungen des wissenschaftlichen Fortschrittes.

- Und nicht zuletzt: Erst das Wissen öffnet den Weg zur Erkenntnis der Begrenztheit und Relativität des Wissens.

Zusammenfassend erkennen wir, dass Wissen nach wie vor eine zentrale Bedeutung hat. Dies ist übrigens nicht reine Theorie: Wie Sie sicherlich wissen, wurde kürzlich in den eidgenössischen Räten darüber debattiert, wie hoch die Investitionen in den nächsten Jahren für die Bildung sein sollen. Die Diskussionen zeigten, dass sich die Erkenntnis, Investitionen in die Bildung seien gerechtfertigt und mit Wissen lasse sich Geld verdienen - zumindest im Moment - grundsätzlich durchgesetzt hat.

·  2: Das Einzelteilchen als untaugliche Grundlage zur Beurteilung eines Ganzen ist eine logische Konsequenz des Umstandes, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelteile.

Wir haben beim ersten Bild gesehen, dass sich die Darstellung klar nach Farben und Anzahl Teilchen gliedern lässt. Die Zahl der Einzelteilchen, Grössen und Farben lässt Vergleiche zu. Was aber passiert mit der zweiten Darstellung in dieser Beziehung? Wo ist der Massstab zum Vergleich? Wie vergleichen wir das Leben, das die Einzelteilchen im gemeinsamen Verband bekommen? Eines steht fest: Der Vergleich der Anzahl der einzelnen Teilchen und Teilchengrössen ist ein untaugliches Mittel, das Leben im zweiten Bild zu erfassen. Oder etwas allgemeiner gesagt: Es gibt Qualitäten, die sich nicht messen lassen mit unseren gängigen Massstäben, welche alles in Zahlen ausdrücken.

Und so lässt sich – um auf Sie zurückzukommen, liebe Maturae und Maturi - auch nicht alles durch Noten messen –auch das ist keine neue Erkenntnis: So meinte Kaiser Ferdinand nach der ersten Aufführung von Mozarts `Figaros Hochzeit` im Jahre1786: „Viel zu laut und viel zu viele Noten, mein lieber Mozart.“ ...  Figaros Hochzeit hat inzwischen längst den Weg auf die besten Bühnen der Welt geschafft – ich überlasse Ihnen das Urteil über die zu vielen Noten – oder den Wert von Vergleichen isolierter Zahlen, oder ganz allgemein darüber, wieviel Sie persönlich jeweils wissen wollen, bevor Sie urteilen ...

·  3: Das Individuum als „Einzelteilchen“ und die Gemeinschaft als Ganzes

Die Einzelteilchen können wir auch als Individuen in einer Gesellschaft, welche ein Ganzes symbolisiert, interpretieren. Das erste Bild ist Symbol für eine klar geordnete Gesellschaft, in welcher sich der Einzelne in erster Linie als Individuum, in Gruppen seinesgleichen geordnet, versteht, und das soziale Zusammenleben auf ein Minimum beschränkt ist. Die zweite Darstellung ist Symbol für ein soziales Zusammenleben, in welchem der Einzelne sich als Teil eines Ganzen versteht: Der Einzelne hat seine Bedeutung teilweise eingebüsst ohne jedoch die Individualität zu verlieren. Aber Ausstrahlung und Wirkung des Gesamten sind weiter entwickelt und um ein Vielfaches reicher als wenn nur die Summe von Individuen betrachtet wird. Und dadurch gewinnt auch das Individuum an Bedeutung.

Ganz wesentlich in diesem Zusammenhang: Die einzelnen Teilchen – Symbol für das  einzelne Individuum – behalten auch im Gesamtbild ihre unterschiedliche Gestalt und damit ihre Individualität – gleich sind sie, und da liegt der wesentliche Punkt, nicht in Farbe, Form und Grösse, gleich sind sie im Umstand, dass sie in unterschiedlicher Art und Weise einen Beitrag am Gesamtbild, Symbol für eine Gesellschaft, leisten. Gerade in der Ungleichheit der einzelnen Individuen liegen die Individualität und Stärke des Ganzen.

Auch dieses Symbol ist nicht ganz realitätsfremd: Merkmale unseres Zeitgeistes sind zunehmende Individualisierung und wachsender Egoismus. Oder wenn wir es – wie heute aktuell – auf das Ökonomische reduzieren: Der ökonomische Gewinn wird zunehmend individualisiert, Risiko und Verlust sozialisiert. Die Resultate dieses von Egoismus geprägten Zeitgeistes sind in der letzten Zeit zur Genüge an die Oberfläche getreten. Es gibt viel zu arbeiten am Gesamtbild, an einem lebendigen und gesunden Gesamtbild, von welchem letztlich auch die Einzelnen profitieren. Und gerade dabei, geschätzte Maturae und Maturi sind Sie gefordert: Sie haben die notwendigen Grundlagen, auch in diesem Bereich an konstruktiven Lösungen mitzuwirken – es bedeutet Verantwortung und Chance gleichzeitig.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile - so wird es Aristoteles zugeschrieben – aber, so banal es klingt, ohne die Teile gibt es kein Ganzes ...

Sie liebe Maturae und Maturi haben sich schon einige Teile und Grundlagen zu einem Ganzen erarbeitet – es ist eine spannende Aufgabe, diesen Prozess nun weiterzuführen ...

Und so komme ich zurück zum Sprung ins Wasser und wünsche Ihnen, dass Sie mit den Fähigkeiten, die Sie hier am Alpenquai erworben haben, das Wasser herrlich erfrischend empfinden und mit Lust und Freude schwimmen ohne sich durch die unvermeidlichen Taucher zwischendurch entmutigen zu lassen – das Rüstzeug dazu haben Sie ... Ich wünsche Ihnen alles Gute.

Gabrielle von Büren-von Moos
Direktorin KSL

aktualisiert am 24.6.2003, brief.gif (134 Byte) webmaster