Ansprache an der Maturafeier des Wirtschaftsgymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) "Die Wertpapiere des Lebens überprüfen"

Intro : " Nach 7 Jahre Müh' und Plag
Ist er nun da, der grosse Tag.
Alle sind glücklich, und ohne Umschweif
ruft jeder: "Ihr seid wirklich reif !"

Liebe glückliche Anwesende, überglückliche Eltern, megaglückliche, pensionierte Schülerinnen und Schüler

Mit Freude und ein bisschen Stolz darf ich ein paar launige Worte zur verdienten Feier des Tages an Sie richten. Die Ansprache soll nach Weisung der Schulleitung den Ablauf einer Sanduhr nicht überschreiten. Ich habe eine gefunden: Diese misst nach Angaben von Fachleuten genau 24 Stunden. Ich hoffe, Sie haben nichts mehr vor - heute und morgen.
Aller guter Dinge sind drei - die Zahl drei ist für jeden Redner - ob Märchenerzähler, Predikant oder Politiker eine magische Zahl. So habe ich denn meine Worte in drei Bilder gefasst. Sie bewegen mich zu dieser Sternstunde, vielleicht gelingt es mir, auch Sie etwas zu bewegen - das wäre schön!
Das erste Bild blickt etwas zurück, stellt eine kleine Huldigung an das Wirtschaftsgymnasium dar. Das zweite Bild fliesst dem Deutschlehrer vom Herzen, das dritte endlich soll Ihr grosses Dokument würdigen. Vielleicht etwas gegen das gängige Muster...

Bild 1: Matura 2002 nach 7 langen Jahren! Waren sie mager, fruchtbar oder gar furchtbar? Emotional chaotisch oder idyllisch? Sei es, wie es sei: Ein Etappensieg ist errungen, Bergpreis und Gipfelrast sind angesagt. Aussicht geniessen, sich neu orientieren. Nun gilt es, die Wertpapiere des Lebens zu überprüfen!

(Ausschau halten) :

Hallo, Herr Bankdirektor in spe, Hallo Sie dort, zukünftige Managerin, smarte Lady Konsulting, Herr Event-Planer und Marketing - Spezialist, Hallo, Sie hoffnungsvolle Spitzensportlerin und Du, schönes Model mit Matura ( das sogar einen gescheiten Satz rausbringt), Sie, zukünftiger Herr Bundesrichter, Frau National - und Bundesrat - hallo Ihr Gescheiten, ihr Erfolgreichen, Ihr Reichen und Schönen von morgen!
Habe ich nun jemanden übersehen, fühlt sich jemand noch nicht übergangen ? Ah, Sie, geschätzte Pastoralassistentin mit Managerfähigkeiten, lieber Hausmann respektive Familienmanager - Und vor allen Du, lieber Mitmensch - So, nun denke ich, sollten sich alle angesprochen fühlen!

Matura 2002 am WG - eine gewaltige Investition! Aber Hand aufs Herz, Sie Börsianer: In welche Unternehmen haben Sie investiert, wie sieht Ihr Portfolio aus? - Ich gehe davon aus, Sie besitzen nur Blue Chips: Angesichts der erschütternden Ereignisse seit dem 11. September möchte ich Ihnen auch das Unternehmen "Weltbürgertum, Toleranz und Partner", empfehlen. Aber auch die Aktien der Firma "Weltethos Coorperation" sind zukunftsträchtig. Falls Sie sich bescheidener, in kleinere und mittlere Unternehmen, engagieren wollen, wie wär's mit Obligationen der Firma "Herzensbildung, Sozialsinn, Verantwortung GmbH"? - Vielleicht
überprüfen Sie gleichzeitig auch mögliche faule Papiere, die grossen, altersbedingten konjunkturellen Schwankungen unterliegen. Ich nenne da etwa " Konsum à gogo, Technomusik around the clock oder Hormonkick à la "Big Brother". Spielen wir weiter Anlageberatung . Aber nach welchen Kriterien ?
Vielleicht gilt auch im Leben die Grundregel der Anlagepolitik: Nicht zu einseitig, nicht ständig hin und her, denn das macht die Kassen leer, aber mit dem Mut und der Risikobereitschaft, erkannte faule Papiere abzustossen, und neue, wertevolle Investitionen zu wagen.
Matura 2002 am WG - ein vorläufiges Bild nur : Es gilt, die Wertpapiere dieses Lebens immer wieder zu prüfen. Für die "Matura von morgen" - solange Zeit bleibt, und Ihnen bleibt die Zeit, die Sie sich dafür nehmen!

Bild 2 : Zeit und Lebensinhalt. Das Thema führt uns unweigerlich zur Sanduhr unseres Lebens. Haben Sie in den letzten 5 Minuten nicht gelegentlich zu ihr hinüber geguckt? Lebenszeit rinnt, rieselt, läuft ab. Das Bild ist zu stark, als dass wir es nicht prominent ins Zentrum rücken wollen.

Sie erinnern sich an Ihren Maturaaufsatz - "Lebensinhalt": Viele von Ihnen hat dieses Thema gepackt. Sven Regener, der Berliner Schriftsteller und Rockmusiker hat Ihnen damals zwei bildhafte Möglichkeiten angeboten, den Lebensinhalt zu fassen. Das Leben als Gefäss, das es zu füllen gilt - sei es Champagnerflasche oder Kotztüte, wie er salopp sagt - oder eben als fast volles Gefäss, das sich kontinuierlich, unmerklich, doch unaufhaltsam leert. Die Sanduhr lässt grüssen!
Und da steht sie nun - als Symbol unseres Lebens, die wohl grösste Sanduhr unseres Kantons: geschichtsträchtig, transparent und solide!

Ich gratuliere Ihnen, dass Sie alle die besagte Kotztüte ebenso energisch zurückgewiesen haben wie die verführerische Chämpisflasche. Seltsamerweise war einigen auch das Bild von der Sanduhr nicht ganz geheuer. Wieso auch nur?
Zugegeben, wer nimmt schon gerne wahr, dass wir gehen und vergehen, während wir doch stets im Kommen sind - oder es meinen! Nicht nur wir Ältere möchten die Zeit ausser Kraft setzen, oder wo dies nicht geht, versuchen wir alles, um sie zu überlisten, sie zu optimieren, am liebsten zu maximieren. Dazu bieten sich zum Beispiel die grenzenlosen Möglichkeiten unserer Kommunikationstechnologien an: Was wir - Sie vor allem - doch heute permanent telefonieren, surfen und mailen - meilenweit, grenzenlos und oft beliebig. Wir sind zu Superturbos geworden. Und wenn wir Pech haben, trifft das Mail von unserem Abgang im Himmel ein, bevor unsere Seele dort ankommt!

Vielleicht gehört deshalb heute zur Reife ein gewisser Mut zur Langsamkeit, zur gelegentlichen Unerreichbarkeit für die Vielen, um für den Einen oder die Eine, das Wichtige, erreichbar zu bleiben! Im schnellen Fluss gilt es, die Inselgruppe Priority anzusteuern und dort - eben wieder - das Portfolio der Lebensreise zu überprüfen, bevor wir neue Segel setzen. Diesmal sind Sie Ihr eigener Steuermann / Steuerfrau, ohne Fremdberatung - denn Sie sind ja flügge, selbständig und reif dazu. Mit amtlicher Garantie unseres Bildungs-Admirals, den ich als Vater heute unter uns begrüssen darf.

Lebensreife heisst Prioritäten setzen: Hören Sie dazu die Worte eines altgedienten Antischulmeisters: Sie müssen nicht alles wissen, alles können, bei allem mitmachen, sonst sind Sie überall und nirgendwo, sind Sie alles und niemand, sind Sie zur reinen Technik, zum Vorgang geworden, zu einem blossen Übergang ohne Tiefgang beim Abgang - soll das etwa ein Umgang mit dem einmaligen Geschenk des Lebens sein?


Grafik: Guy Markowitsch

 

Des Menschen Zeit - Ihre Zeit - was ist das?
"Einszweidrei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit", sagt Busch. Hamlet klagt, "die Zeit sei aus den Fugen", der griechische Arzt Menander hofft "Zeit heile Wunden". Während Ihrer Ausbildung haben Sie wohl oft gehört, Zeit ist Geld - natürlich wie jede Wahrheit auf Englisch - "Time is money, and money makes the world goes around.." - nur sehe ich leider keine Dollars, keinen Euro und nicht mal unsern harten Franken durch die Sanduhr rinnen. Was also ist unsre Zeit? "Des Menschen Engel ist die Zeit" meint ein Kirchenvater. Zeit als als Transmitter des Lebens, mit dem symbolischen Botenstoff Sand.

Was aber läuft da mit dem Sand vom Gestern übers Heute ins Morgen, das schon bald wieder zum Gestern wird? Ich denke, der Sand, dieses feine Urelement, aus dem wir stammen, zu dem wir zurückkehren, wird energetisch aufgeladen. Angereichert durch unsere Gedanken, Wünsche, Träume, durch unsere Erfolge und Misserfolge im Tun und Denken -
Wir geben unsern Sandkörnern gerne Namen, nennen sie Erfolg, Karriere, Macht und Reichtum, Lebenslust - die grösste Leuchtkraft und Energie aber gehört dem Sandkorn "Liebe"! Wem sage ich das - in Ihrem Alter sind in dieser Hinsicht viele Profis - und wir freuen uns darüber! _ Junge Mensche haben das Vorrecht, Sand, nicht Öl, im Getriebe dieser Welt zu sein - es darf ruhig ein bisschen knirschen!

Panta rhei - auch der Sand fliesst. Einmal wird der Überfluss aber wörtlich zu Ende gehen. Trauer, Angst, Schrecken?- Doch nur für Kleingläubige, Unreife, solche ohne Matura des Lebens!Wir alle wissen doch, fühlen oder hoffen, die Sanduhr ist ja umdrehbar, keine Energie, kein Sandkorn, nichts geht verloren, ein neuer Zeitenfluss beginnt, mit höherer Energie und höherem Wert unserer bewusst gelebten Sandaktien, sprich, den Wertpapieren des Lebens. - Sicher, das Umdrehen dieser 80 Jahre schweren Uhr ist eine unmenschlich oder eben übermenschliche Arbeit. Wer aber sagt, dass wir Menschen immer alles allein besorgen müssen?

Bild 3: Das grosse Dokument- die Akte M. ( Zur Hand nehmen.) 

Alles muss ich allein besorgen! War das auch so mit Ihrem grossen Dokument, das Sie bald in Händen halten werden. Geschafft - bravo! Doch allein geschafft, allein gelassen? Dieser Marschhalt verdient auch Ehrlichkeit. So denke ich, ich darf stellvertretend für Sie , Ihren Eltern danken - die Mama kriegt hoffentlich den Kuss nicht nur am Muttertag, der Papa den warmen Händedruck nicht nur wegen des Maturabatzens! Vielleicht darf ich gar Lehrerschaft und Leitung in den Dank einschliessen, als Animatoren oder Gefährten auf Ihrem Weg zum grossen Dokument. ( Und namens der Lehrerschaft danke ich Ihnen auch allen, liebe Eltern, wenn Sie uns mitgeholfen haben, Eckwerte zu setzen und Grenzen zu ziehen; Jugendliche brauchen beides, nicht nur Kumpel! Die Tragik von Erfurt wirft noch lange Schatten...).

Dieses Papier des Erfolges, auf das Sie nun zu Recht stolz sein dürfen -es verpflichtet auch. Sie gehören fortan zu den Besten unserer Gesellschaft. Dadurch sind Sie nicht nur privilegiert, sondern auch in die Pflicht genommen.
Setzen Sie doch Ihr Engagement für die Gesellschaft, Familie und Staat ein. Damit haben Sie auch Gelegenheit, die Hypothek, die auf Ihrer Ausbildung lastet, abzutragen und Sie werden als Bauherren ihren Kreditgebern in die Augen und am späteren Abend in den Spiegel schauen können. Und ich bin sicher, Ihr Spiegelbild wird nicken und Ja zu Ihnen sagen.

Das Maturazeugnis - ich halte es in Händen. Eine seltsame Aktie diese Akte M. Eine Inhaberaktie, wobei der Name dauernd ändert. Mal lautet sie auf Ueli, mal Gaby, mal Konrad mal Marie-Claire, neuestens Jiri und Nada, denn immer mehr tauchen auch fremdländische Geschäftspartner des Lebens auf - recht so. Bildung soll Brücken schlagen und verbinden.
Aber noch etwas anderes an dieser Aktie ist bei näherer Betrachtung seltsam: Da sind ja gar keine Zahlen, keine Noten drin, Es enthält ein unausgefülltes Einlageblatt, worauf die Fächer anders lauten. So lese ich etwa Kommunikation: "Der Inhaber hat seine Sprachfertigkeit klar und ehrlich eingesetzt und zur wahren Verständigung beigetragen". Naturwissenschaften: "Die Inhaberin hat ihre analytische Fähigkeit zu differenzierten Problemlösungen eingesetzt. Sie wurde dadurch der Sache und den Menschen gerecht. Wirtschaft, Recht und Ethik: "Der Inhaber hat sich für eine nachhaltige Entwicklung, für den weltweiten, gerechten Ausgleich eingesetzt und so dem Frieden gedient."

Abschlussprädikat: Hat nach seinen / ihren Kräften gedient, darf deshalb mit hohem Verdienst rechnen - als Mensch nobelpreisverdächtig! - Die Unterschrift im Einlageblatt fehlt übrigens auch. Sie wird dereinst nicht von einer Schule, nicht vom BD, nicht vom Elternhaus gesetzt, sondern von Freunden und Gegnern, Kollegen und Konkurrenten, Ihren Angehörigen- nicht zuletzt von Ihren eigenen Kindern - also vom Leben selbst und jenem, der Ihre Sanduhr erdacht hat.

Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg beim Ausfüllen Ihres Einlageblattes, Spass am Rieseln Ihrer Sanduhr, aber auch Mut beim Überprüfen der Wertpapiere Ihres Lebens. Sie schaffen das, wie Sie heute die Grundlage dazu geschafft haben. Bravo, alles Gute! Ich danke Ihnen.

Dr. Konrad Vogel, Deutschlehrer
Montag, 27. Mai 2002

zurück

aktualisiert am 11.6.2002, brief.gif (134 Byte) webmaster