Maturarede an der Maturafeier des Wirtschaftsgymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Prof. Dr. Jörg Schmid, Universität Luzern

Donnerstag, 20. Juni 2002

 

Liebe Maturae und Maturi
Sehr geehrter Herr Rektor
Sehr geehrte Damen und Herren

Am heutigen Abend können die Absolventinnen und Absolventen des Wirtschaftsgymnasiums ihre Maturazeugnisse entgegennehmen. Das ist ein Grund zum Feiern, denn die Matura stellt nach wie vor einen äusserst bedeutungsvollen Schritt in der Ausbildung dar. "Ausbildung" heisst "Zukunft", und ich wende mich nun vor allem an Sie, liebe Maturae und Maturi, um für Ihre Zukunft ein paar Gedanken zu formulieren. Ich tue dies – von meiner Ausbildung her – aus der Sicht eines Rechtswissenschaftlers und stelle meine Ausführungen unter den Titel

"Vom Gebrauch der Freiheit".

Damit knüpfe ich an die Präambel der schweizerischen Bundesverfassung an. Das "Grundgesetz" der Eidgenossenschaft (vom 18. April 1999) geht in programmatischer Weise davon aus, "dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen". Dies ist nicht nur schlichte "Lebensweisheit", sondern von Verfassungs wegen "Programm", bedarf aber in hohem Mass der Konkretisierung. Lässt sich daraus für Ihre Zukunft etwas ableiten? Auf diese Frage möchte ich in 3 Punkten antworten:

1.  Die Matura ist zunächst einmal ein Ausweis, der Ihnen den Zugang zur Universität öffnet. Von dieser geöffneten Türe können Sie Gebrauch machen oder nicht. Stets aber gilt Folgendes: Die Matura ist keine Berufsausbildung, die für sich allein Sie befähigt, wirtschaftlich auf eigenen Füssen zu stehen. Sie ist vielmehr eine "Zwischenstufe", an die sich eine weitere Ausbildung (universitärer oder anderer Art) anschliesst. Als "ordentlichen Abschluss" bezeichnen viele universitären Erlasse – Universitätsgesetze, Fakultätsreglemente oder andere Erlasse – ein Lizentiat einer bestimmten Fachrichtung, den "Masterabschluss" oder ein Diplom. Ich muss allerdings sofort hinzufügen, dass der Ausdruck "ordentlicher Abschluss" rein formeller Natur und damit zumindest missverständlich ist: Formell geben das Lizentiat oder der Masterabschluss bei den Rechtswissenschaften beispielsweise den Weg für viele juristische Berufe frei. Falls Sie aber etwa Rechtsanwältin werden möchten, so sind weitere Ausbildungsschritte erforderlich: Anwaltspraktikum und Anwaltsprüfung. Die Marktsituation und Ihre Ambitionen für herausfordernde Berufe können faktisch – also „materiell“ – nochmals zusätzliche Anforderungen stellen, etwas ein Doktorat oder einen Post-graduate-Abschluss, der heute in vielen Fächern regelmässig im Ausland erworben wird. Hinzu kommt ein Weiteres: Jede anspruchsvolle Berufstätigkeit setzt permanente Weiterbildung voraus. Obwohl es (Dank der Wissenschaft) immer mehr gesichertes Wissen gibt, nimmt die Halbwärtszeit dieses Wissens ständig ab; Wirtschaft und Gesellschaft sind heute daher wesentlich durch Weiterbildung geprägt. Damit komme ich zu meinem ersten Fazit:

     Wie auch immer Sie von Ihrer Freiheit der Ausbildung und der Berufswahl Gebrauch machen: Seien Sie sich bewusst, dass man keine Ausbildung "definitiv" abschliessen kann, sondern dass heute lebenslanges Lernen gefragt ist.

2.  Diese erste Überlegung zur "Vorläufigkeit" der Matura soll Sie auf keinen Fall entmutigen: Mit der Matura haben Sie nämlich (innerhalb und ausserhalb der schulischen Ausbildung) eine Reihe von Kompetenzen erworben, die Ihnen beim lebenslangen Lernen erstklassige Hilfe bieten können. Ich meine damit nicht nur die Kenntnisse in den einzelnen Wissensgebieten und die Arbeits- und Lerntechniken, sondern vor allem auch weitere Kompetenzen wie: Verantwortlichkeit, Offenheit für Neues, Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, Team- und Konfliktfähigkeit. Auch diese sozialen Kompetenzen vermitteln Ihnen Freiheit und Unabhängigkeit – ja erst sie ermöglichen Ihnen den Zugang zu und das Bewähren in anspruchsvollen Berufen. Das führt mich zu meinem zweiten Punkt:


Bildvorlage: Manuel Maibach 1i

 

Pflegen Sie auch diese sozialen Kompetenzen weiterhin: Es gibt keine zukunftsfähige Wissenschaft – und damit keine Wissenschaft überhaupt – ohne Offenheit und Neugier, aber auch keine Wissenschaft ohne ein ständiges Sich-selber-kritisch-hinterfragen, ohne Teamfähigkeit und ohne Verantwortung.

3.  Im eingangs zitierten Absatz 6 der Präambel unserer Bundesverfassung ist nicht nur die Rede vom Gebrauch der Freiheit. Die Aufforderung, seine Freiheit auch wirklich zu gebrauchen, wird verbunden mit der Aussage, "dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen". Dieses Wohl der Schwachen wird in der BV (und darüber hinaus in der gesamten Rechtsordnung) wieder aufgegriffen, nicht nur wenn es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen oder das Recht auf Hilfe in Notlagen geht, sondern auch in zahlreichen weiteren Fällen, etwa beim verfassungsrechtlichen Verbot der Diskriminierung von Minderheiten, bei der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge sowie beim Konsumentenschutz. Wie weit im einzelnen Fall der Schutz reicht, ist im Gesetzgebungsverfahren demokratisch festzulegen und bei der Rechtsanwendung nach Massgabe von Gesetz, Lehre und Rechtsprechung zu bestimmen. Auch hier bestehen für Sie erhebliche Freiheiten: Freiheiten im Rahmen der politischen Mitwirkung (etwa als Stimmbürgerinnen und Stimmbürger) oder bei der juristischen Entscheidfindung (etwa für Personen in der staatlichen Verwaltung oder am Gericht).

Hier ruft die Präambel der Verfassung Sie auf – und das ist mein dritter Punkt –, bei Ihren Entscheiden jedenfalls das Wohl der Schwachen in Betracht zu ziehen. Der Aufruf zum Gebrauch der Freiheit ist untrennbar verbunden mit der Mahnung zur Verantwortung, namentlich gegenüber den Schwachen in unserer Gesellschaft. Hinter dieser Mahnung steht nicht so sehr die Sorge, dass auch ein “Starker“ einmal zu einem Schwachen werden und Hilfe benötigen kann, sondern vielmehr ein Appell zur Solidarität – innerhalb der Schweiz und darüber hinaus.

Liebe Maturae und Maturi, Sie sehen, dass eine spannende, aber auch anspruchsvolle Zukunft auf Sie wartet: eine Zukunft, die Ihnen ein sehr grosses Mass an Freiheit bietet und für die ich Ihnen von Herzen alles Gute wünsche. Feiern Sie heute und freuen Sie sich auf diese Zukunft und diese Freiheit. Aber vor allem denken Sie an eines: Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht.

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aktualisiert am 4.7.2002, brief.gif (134 Byte) webmaster