Ansprache an der Maturafeier des Realgymnasiums

 

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LOB DER LANGEWEILE

Was wird nicht alles getan, was tun wir nicht alles, mit dem Ziel, jeden Tag, jede Stunde, vielleicht gar jede Minute zu füllen mit einer Verpflichtung, mit Fernseh-, Musik- oder Filmkonsum, mit Anlässen jedwelcher Art, Telefongesprächen, Surfen im Internet, mit Spielen, Reisen, Einkaufen, Sport und vielem, vielem mehr. Und mit durchschlagendem Erfolg schaffen wir es, dass wir nie wirklich Ruhe haben, keine stille Minute. 

Liebe Maturae und Maturi
Sehr geehrte Angehörige und Mitfeiernde
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen des Realgymnasiums

Ich sehe tagtäglich die prallvollen Agenden von Schülerinnen und Schülern; von der Kantonsschule eilen sie fort zum Gitarrenunterricht, und von hier, wenn es denn mit der Busverbindung klappt, direkt nach Adligenswil, wo drei Stunden lang für Meinungsforschung und Werbung telefoniert wird, gutbezahlt, damit man sich das nächste Wochenende mit der exklusiven Party leisten kann. 
Ich weiss, viele von Ihnen, liebe Maturae und Maturi, betreuen junge Menschen in einer Jugendorganisation oder in einem Sportverein und leisten damit soziale Arbeit. Sie erwarten vermutlich nun, nach dem Jahr der Freiwilligenarbeit erst recht, ein Plädoyer zu Gunsten dieser Freizeitengagements. Aber Sie haben keine Zeit, keine wirklich freie Zeit; noch heute haben Sie Termine, um 23 Uhr treffen Sie sich mit Freunden im Flora, morgen haben Sie ein Vorstellungsgespräch, weil Sie über-nächste Woche, kaum am Alpenquai als reife Frucht vom Baum der Erkenntnis gefallen, einen Job brauchen (wie es so schön heisst), um Geld zu verdienen, das es Ihnen gestattet, am 15. September in Los Angeles Ihre Kollegin zu treffen, die seit einem halben Jahr dort lebt.
Such is life, so ist das Leben, werden Sie sagen, und Sie haben Jean-Jacques Rousseau auf Ihrer Seite, denn er hat vor über 200 Jahren schon die Meinung vertreten: " Nicht wer am ältesten wird, hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten gelebt hat." Trotzdem habe ich mir vorgenommen: NEIN zu sagen, das ist aus meiner Sicht gerade nicht das Leben; was ich geschildert habe, ist im Gegenteil die abschüssige Seite des Lebens, und mag sie in der heutigen Zeit noch so dominierend sein und damit scheinbar als 'normal' angesehen werden.

Liebe Maturae und Maturi
Die Innenseite des Lebens, jene, die zum Zentrum, zum Wesentlichen hinführt, steht der Hektik, der Unruhe, der Rastlosigkeit entgegen. Das Wesentliche menschlichen Seins bleibt unzugänglich, wenn man von Termin zu Termin eilt, wenn Action, Erlebnis, Konsum rauschähnlich die Freizeit durchdringen.
Ich möchte hier ein Lob sprechen auf die Langeweile, ja, Sie haben richtig gehört. Auch wenn allein das Wort Sie schon erschaudern lässt, wenn Sie die bange Frage befällt: Wie komme ich hier raus? Und selbst wenn Sie denken, die Beschäftigung mit der Langeweile müsse wesensgemäss etwas Langweiliges sein.
Ich wage es:
LOB DER LANGEWEILE.
Als Langeweile nehmen wir jene Momente, jene Minuten, Stunden oder Tage wahr, wenn sich nichts tut, wenn nichts auf dem Programm steht und die Agenda einen schneeweissen Anblick bietet. Langeweile stellt sich dann ein, wenn man sich der Zeit gewahrt, die stehen zu bleiben scheint. Augenblicke werden zerdehnt, aus Minuten werden vermeintlich Stunden. Zum Zeitfaktor, der zäh gerinnenden Zeit, gesellt sich die Beziehung, die man zur Angelegenheit hat, die das Gefühl von Langeweile auslöst. Was einen kalt lässt, was einen also persönlich nicht berührt, wird schnell als langweilig empfunden. Die beiden Elemente, das Zeitgefühl und die Beziehung zum Gegenstand, machen deutlich, wie subjektiv Langeweile wahrgenommen wird. Der Mensch hat offensichtlich Angst vor der Langeweile, er nimmt sie als Leiden in und an der Zeit wahr, wie Kierkegaard sich ausgedrückt hat, als Empfindung sinnleerer Zeit. Ist also Langeweile nichts anderes als die Reaktion auf eine inhalts- und sinnarme Wirklichkeit, auf Gleichförmigkeit und Banalität des Lebens und damit auf eine vermeintliche innere Leere?
Für mich hat Langeweile überhaupt nichts mit Sinnleere zu tun. Im Gegenteil: Es sind dies wertvolle, essentielle, entscheidende Minuten, Stunden und Tage. 
Und ich möchte mein Lob beginnen mit einem Blick zurück: Langeweile war historisch ein Statussymbol; nur die oberen Schichten konnten sich Langeweile leisten, was sie an den Höfen auch richtiggehend zelebrierten. Im Verlaufe der letzten 200 Jahre, ausgehend von der Romantik, ist die Wahrnehmung von Langeweile demokratisiert worden und erweist sich damit als ein Privileg des modernen Menschen, denn nun können dies breite Bevölkerungskreise für sich beanspruchen. Und ich nehme an, dass Sie als freie Bürgerinnen und Bürger in einem freien Land jegliche Form von Demokratisierung als etwas Positives begrüssen - wozu, wie ich Ihnen darlegte, auch die Langeweile gehört.
Zu diesem wichtigen Argument gesellt sich das kritische Potential, das im Phänomen der Langeweile verborgen liegt. Langeweile ist ein Indikator für situative, besonders für existentielle Mängel oder Defizite; Langeweile zeigt an, dass eine soziale oder kulturelle Instanz, die sinnstiftend wirken sollte, versagt hat. Wer sich der Langeweile stellt, setzt sich mit der Sinn- und Inhaltsarmut des gesellschaftlichen Treibens auseinander; er wird zu einem kritischen Geist. Ja, man kann sagen, dass Langeweile die Grundlage des wahren Nonkonformismus bildet, genau das also, was Sie als Absolventinnen und Absolventen einer Mittelschule leben wollen.
Aber ich muss Ihnen sagen, dass Langeweile noch viel mehr positive Aspekte bietet. Sie ist die Triebkraft, die unsere zivilisatorische Entwicklung hartnäckig und pausenlos stimuliert, es ist die Kraft, die unsere bunt rauschenden Freizeitwelten geschaffen hat. So sieht kein geringerer als Bertrand Russell in der Langeweile "eine der grossen treibenden Kräfte durch das ganze geschichtliche Zeitalter hindurch und heute mehr denn je." Das ist doch gewaltig. Damit zusammen hängt übrigens die Unterhaltungsindustrie, die es ohne das Phänomen der Langeweile nicht gäbe. Und dieses Leben in der vielgestaltigen Freizeitgesellschaft ist doch heute nicht mehr wegzudenken, im Gegenteil: Wir kosten sie radikal aus, ja wir leben geradezu davon.


Grafik: Annina Weber 6Rc

 

LOB DER LANGEWEILE.
Ich nähere mich meinem zentralen Gedanken.
Langeweile dient auch als Indikator für den Mangel an persönlicher Überzeugung und an Interesse. Denn Langeweile setzt Subjektivität voraus, und das heisst: Selbstbewusstsein. Der Philosoph Lars Svendsen hält dazu Folgendes fest: "Um sich zu langweilen, muss das Subjekt fähig sein, sich selbst als ein Individuum zu begreifen", und er kommt zum Schluss, dass es ohne Sinnanspruch keine Langeweile gäbe. Und hier sind wir nun wirklich bei meinem grundlegenden Argument.
An einem Tag, an dem Sie die Langeweile packt, schaffen Sie es nicht, dem Wesentlichen davonzulaufen, keine Veranstaltung, keine scheinbar zwingende Verpflichtung entführt Sie in berufliche oder freizeitbezogene Welten. Ich muss hier einschränkend sagen, dass es vielleicht gar nicht gelingt, sich der gegenwärtigen alles umgreifenden Erlebnisgesellschaft zu entziehen; vielleicht sind wir schon voll-umfänglich Gefangene unserer Erlebniswelten! Dies nur in Klammer.
Konfrontiert mit der Langeweile, sind Sie auf sich selbst gestellt, Sie haben nichts um sich; - keine Musik, kein Fernsehprogramm, kein SMS lenkt Sie ab. Sie sind zurückgeworfen auf sich selbst, schauen in den Spiegel und sehen sich selbst, nicht irgendeine Maske, nicht das fratzenhaftverzerrte Konterfei, mit dem man jeweils frühmorgens Bekanntschaft macht. Nur in Momenten ausserhalb der minutiös aufgeschnürten Reihe von Terminen und Verpflichtungen kommen Sie zu sich selbst. Und wenn ich dies so sage, merken Sie sicher, dass hier doch das Entscheidende geschieht. Man sagt zwar öfter, gerade im Zusammenhang mit Kommunikation, auch dies ein Schlüsselbegriff der Gegenwart, obschon die Menschen nie einsamer waren als eben jetzt, wir glauben, im Zwischenmenschlichen liege die wahre Bestimmung, das Soziale sei das Non-plus-ultra einer gelingenden Existenz. Das möchte ich nicht bezweifeln oder in Frage stellen. Und doch bin ich fest davon überzeugt, dass wir im sozialen Stress, im totalen Kommunizieren etwas völlig verdrängen. Und dies ist unser wahres Selbst. 
Ich kann an Sie nur appellieren: Stellen Sie sich den Momenten, in denen sich Ihnen nichts entgegenstellt, in denen nichts geschieht, kein Geräusch zu vernehmen ist, Augenblicke, in denen Sie niemand und nichts fortlockt. Ja, packen Sie die Chance, sie wird mit der 72. Fernsehanstalt, an die Sie sich per Kabel andoggen können, nur kleiner, nutzen Sie die Gelegenheit, und geniessen Sie die leisen Minuten, die sich dehnen und spannen, die sich in die Länge ziehen, allseits strecken, Momente, die kein Ende nehmen wollen. Es sind die ureigentlichen, die Sie wahrhaft entführen, weg von der Oberflächlichkeit, dem Zivilisationslärm und -müll, der akustischen und visuellen Umweltverschmutzung hin zu sich selbst. 
Langeweile ist wohl das pure Gegenteil von Leidenschaft, und Leidenschaft ernst nehmen heisse, so die Psychologin Verena Kast, unseren emotionalen Bezug zum Leben ernst nehmen, dann seien wir bei uns selbst. Ja, das mag sein, aber eben emotional, im Wirrwarr, in der unerträglichen Instabilität der Gefühle. Es ist doch überhaupt nicht wahr, wie dieselbe Psychologin ausführt, dass wir uns nicht betreffen lassen, wenn wir Emotionen nicht mehr zulassen. Nicht mehr zulassen! Nein.
Es gibt noch einen ganz anderen Zugang zur Welt, einen von Emotionen entschlackten, einen von farbigem Rauch, Lärm und Gestank der Erlebniskultur befreiten: Entlastet nämlich von Gefühlsschwankungen, von Leidenschaftlichkeit gelingt ein authentischer, Sinn stiftender Lebens- und Weltbezug nur aus der Erfah-rung der Langeweile heraus.
LOB DER LANGEWEILE.
Schauen Sie genau hin, und Sie erkennen das Wesentliche nicht im Flitter und Glanz, nicht im allgegenwärtigen Konsum- und Erlebnisrausch, sondern in den Momenten der langen Weile, wenn Sie die Sekunden vernehmen können. Der grosse Denker Friedrich Nietzsche hat gesagt: "Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selbst." Langeweile hat mithin nichts mit Gleichgültigkeit oder Indifferenz zu tun, sondern dürfte einzig in der Nähe der Nüchternheit zu sehen sein. Und Nüchternheit verstehe ich hier ausdrücklich als die willentliche Abstinenz vom Erlebnisrausch. Ich kann Ihnen also nur empfehlen: Leben Sie die Leidenschaftslosigkeit wirklich leidenschaftlich; stellen Sie sich der Langeweile, nicht als Stimmungsmenschen, sondern als Nonkonformistin! Ja! Als Nonkonformist.
Leben Sie wohl ...

Odilo Abgottspon, Prorektor RG
Freitag, 24. Mai 2002

 

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aktualisiert am 11.6.2002, brief.gif (134 Byte) webmaster