Maturarede an der Maturafeier des Realgymnasiums

 

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Prof. Dr. Beat Wyss, Stuttgart

Montag, 24. Juni 2002

 

Meine Damen und Herrn,

Zunächst möchte ich Ihnen, liebe Maturae und Maturi zu Ihrem bestandenen Examen gratulieren. Ein Lebensabschnitt ist damit überschritten: von der Zeit der Bildung zur Zeit der Ausbildung, am Tor zum Berufsleben.

Uns trennen etwa 35 Jahre, mithin mehr als eine Generation. Verbindet uns aber auch mehr als die Tatsache, dass wir an derselben Bildungsanstalt die Matura gemacht haben? Die Umstände, unter denen ich die Kanti besuchte, lassen mich, im Vergleich zu Ihnen, als revenant, als Gespenst aus dem 19. Jahrhundert erscheinen. Die ersten drei Jahre ging es noch an den Hirschengraben; auf dem Turnplatz, wo jetzt Autoparkplätze sind, durften wir im patriarchalischen Schatten von Jesuitenkirche und Regierungsgebäude Fussball spielen. Die Welt war noch in Ordnung, und wenn wir Blödsinn machten, hiess es: "Reisst euch zusammen, ihr gehört zur geistigen Elite". In der Tat: In unserer Klasse hatten noch über Zweidrittel Griechisch und Latein gewählt, ein Jahr hebräisch war fakultativ. Englisch schien vielen fast zu abseitig und einige Lehrer buchstabierten denn auch, falls einmal ein Musik- oder Romantitel aus jenem fernen Sprachraum in die Wirklichkeit des Unterrichts vordrang, so wie er gedruckt steht. Natürlich durfte man es nicht offen ausdrücken, doch irgendwie herrschte die Auffassung vom kulturlosen Cowboy-Land Amerika, das uns zwar den Frieden von 1945 bescherte, aber auch Mikey Maus, dessen Schundhefte mein Vater mir strengstens verboten hatte. Englisch konnte schon deshalb keine Kultursprache sein, da sie in Luzern nur von anglikanischen und baptistischen Touristen gesprochen wurde. Wobei wir beim nächsten Punkt sind: Katholisch ging es zu! Wer die Sonntagsgottesdienste in der Jesuitenkirche nicht regelmässig besuchte, musste eine Entschuldigung vorbringen oder mit einer Betragensnote rechnen.

Doch unvermittelt ging es abwärts mit der heilen Welt. Den Rest der Kantizeit verbrachte mein Jahrgang in der ehemaligen Infanteriekaserne an der Baselstrasse, einem Luzerner Quartier, das im Lauf seiner Geschichte die Armen, die Kranken, die Ausländer und Straftäter beherbergte. Neben der Schule war das Schlachthaus, am Dienstag kamen die Rinder und Schweine angefahren, und die Reuss verfärbte sich braunrot. Das Geschrei der Möven, die sich über dem Wasser um die Abfälle zankten, nötigte uns dann, die Fenster zu schliessen, denn der Geruch eines Schlachttags über der Stadt konnte einem auch den Appetit auf das vergällen, was einem Mutter aufs Wurstbrot gelegt hatte. Das Luzern der sechziger Jahre zeigte sich durchaus noch als Hauptstadt einer Bauernrepublik, wenn die Wirtschaften rund um den Viehmarkt von Entlebuchern und Seetalern bevölkert war und man als Radfahrer längs der Bruchstrasse aufpassen musste, dass, physikalisch gesprochen, die Haftreibung zwischen Gummireifen und Asphalt nicht unterbrochen wurde von einem Kuhfladen. Heute kann dies nicht mehr passieren, denn am ehemaligen Kasernenplatz beginnt die Autobahn.

Ich erzähle Ihnen das, nicht um Sie mit meinem Heimweh nach Alt-Luzern zu plagen, sondern um zu zeigen, was uns in unserer Ungleichzeitigkeit verbindet: Zwischen uns liegt ein weltumspannender Umbruch, dessen Wirkungen wir lediglich von zwei Enden des Zeittunnels erfahren haben. Sozialökonomisch besteht dieser Umbruch im Übergang von national gesteuerten Industriegesellschaften zur global vernetzten Informationsgesellschaft; kulturell äussert sich der Prozesss in einer Amerikanisierung des Lebensstils; speziell bildungspolitisch bedeutet er das Ende eines Wertekanons, der für zweihundert Jahre gültig gewesen war.

Ist meine Generation vor 35 Jahren völlig naiv in diesen Umbruch hineingestolpert, so sehen Sie heute- Gnade der späten Geburt - viel klarer, was der Umbruch mit sich bringt.

Stichwort Informationsgesellschaft: Sie gehören zur ersten Generation, die mit dem PC aufgewachsen ist. Die Jedi-Ritter, die auftraten, als Sie geboren wurden, konnten Ihnen schon nichts mehr bringen, denn der intergalaktische Radius von Star-Wars beschränkte sich auf die altbackenen Medien Film, Fernsehen und Video. Sie aber sind ausgezogen, die Wüste Internet zu beherrschen mit Waffen, die Sie weder zu hause noch in der Schule geschmiedet bekamen. Eltern und Lehrer, mithin meine Generation, mochten nicht selten in unserer Mischung von Ahnungslosigkeit und Abwehr nur ein Hindernis auf diesem Eroberungsweg gewesen sein. Ihre kommunikative Kompetenz mussten Sie zuweilen in einer Grauzone von Verboten, schmalem Taschengeld und Mediashops erwerben, im konspirativen Austausch untereinander, in Internetcafes und über Chatrooms. Wir erleben gerade eine seltene Situationen in der Fortschrittsgeschichte der Menschen, wo die Kinder mehr wissen als die Eltern, wo das überlieferte Wissen ein Hindernis für die gesellschaftliche Entwicklung scheint.

Stichwort Amerikanisierung: Auch hier betrachten wir dasselbe Phänomen von den zwei Enden der Currywurst. Für Sie ist Selbstverständlichkeit, was für meine Generation in den sechziger Jahren mit ideologischer Überhitzung begonnen hat. Geschmacksverstärker für die neue Lebensform war die Popkultur, von derselben Jugend frenetisch begrüsst, die das politische Amerika als kriegsführende Nation in Vietnam ablehnte. Die Vorurteile der Neulinken gegen das Land von Uncle Sam waren dabei oft befremdend ähnlich wie das Verdikt der Altkonservativen, die in der Amerikanisierung den Untergang des Abendlandes erkannten.


Graphik: Tobias Haas 6Rd

 

Das führt mich zum Stichwort Wertekanon: Während Neil Armstrong auf dem Mond hüpfte, büffelten wir die unregelmässigen griechischen Verben: - und wurden dabei im Glauben belassen, dies sei die eigentlich tragfähige Weise, die Menschheit weiter zu bringen. "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren": Meine Generation hat gegen einen Humanismus protestiert, der zum Blendwerk über Mitläufer- und Mittäterschaft in den dreissiger und vierziger Jahren verkommen war, einen Humanismus mithin, der mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realität nicht mehr vereinbar schien. Dabei wurde in einer Kette von Bildungsreformen eine Tradition an Werten über Bord geworfen, was sich, wie die Pisa-Studie zeigt, als epochaler Fehler herausstellt.

Sie stellen an uns als Eltern und Lehrer zu Recht die Frage, was wir Ihnen hinterlassen haben. Die Informationsgesellschaft ist inzwischen erfolgreich auf kaltem Weg eingeführt und kommt allmählich zum Stillstand, wie die Aktien bei den Technologiewerten zeigen. Damit dämpft sich auch die Aussicht auf einen problemlosen beruflichen Einstieg, auf den Sie mit viel Fleiss und Konzentration gearbeitet haben.

Stehen wir am Ende einer technischen Revolution, der die Inhalte abhanden gekommen ist? Informieren ist wunderbar, nur was, an wen und wozu? Die chaotische Entwicklung des neo-liberalen Weltmarkts zwischen Höheflug und Absturz hinterlässt uns all die superleichten Labtops und Handies; aber es fehlt oft die entscheidende Software: unsere Message. Zu Un-recht wird im wirtschaftspolitischen Wunschdenken "Informations-" und "Kommunikationszeitalter" in einem Atemzug genannt. Zu den häufigsten Szenarien des Web-Surfens gehört etwa diese Antwort: OK, no problem, lad´ es dir selber runter. Das mag zwar eine Information sein, stellt aber noch keine Kommunikation dar.

Bitte nicht böse sein, wenn ich Sie die Generation Benetton nenne, Sie mit jener Firma verbinde, die in den neunziger Jahren mit Ihren Kindergesichtern Werbung machte. Ich fand sie gar nicht schlecht und passend für die Zeit: genau das Gegenteil von der ideologisch aufgeputschten Mentalität meiner Generation. Sie hat gezeigt, dass Wirtschaft und kritisches Engagement nicht per se im Widerspruch stehen. Ich schätze Ihren klugen Pragmatismus und werde nicht müde, das dämliche Gerede von der angeblich unpolitischen Haltung der heutigen Jugend zurückzuweisen. Es gibt keine Generation zuvor, die sosehr vom Geist der interkulturellen Toleranz getragen ist, da Sie global informiert sind, wie keine Generation zuvor. Ich bin völlig gelassen und überzeugt, dass Rechtspopulismus sich mit Ihrer kosmopolitischen Einstellung nicht verträgt.

Jede Generation tritt ihre Sendung an, indem sie die Fehler der vorangehenden korrigiert und dabei neue Fehler macht. Wir korrigierten die Fehler unserer Mütter und Väter, die uns als Mitläufer vorkamen und schütteten dabei das Kind mit dem Bad aus. Sie werden unsere politische Hysterie korrigieren. Als erste vollgültig instruierte User der Informationstechnologie mussten sie die einschlägigen Gebrauchsanweisungen nicht mühsam entziffern, sie haben sie im Kinderzimmer erspielt. Vielleicht besteht, liebe Maturae und Maturi, Ihre geschichtliche Aufgabe darin, dass die Kommunikation sich nicht in blosse Information auflöst. Eine bisher ungelöste Aufgabe ist es, die neuen Technologien mit Inhalten füllen und bei der Anwendung eine Ethik zu entwickeln, die nicht allein dem laissez faire der Wirtschaft überlassen bleibt. Es steht uns als Eltern und Lehrer natürlich nicht zu, ihnen Vorgaben betreffend Ihrer Zukunft zu machen. Doch wenn ich etwas wünschen darf, möchte ich Sie bitten, darauf zu achten, dass Ihre Botschaften über Satellit auch unter den Menschen ankommen. Die Gesellschaft selber ist nicht digitalisierbar. Was in den letzten Jahren besonders nachgelassen hat, ist das Investieren in die Netzwerke an sozialen und wirtschaftlichen Dienstleistungen. Wird diese Fehlentwicklung korrigiert, kann die Arbeit nicht ausgehen.

Sie werden, liebe Maturae und Maturi, mit Ihren Leistungen sicher auch Fehler machen, doch nicht nur der heutige Festtag gebietet es, sondern auch meine Phantasie vermag es nicht, sie auszumalen. Lassen wir die Bestimmung Ihrer künftigen Fehler die Aufgabe Ihrer Kinder sein.

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aktualisiert am 4.7.2002, brief.gif (134 Byte) webmaster