Ansprache an der Maturafeier des Literargymnasiums

 

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Prof. Dr. Ruedi Imbach, Paris

Freitag, 21. Juni 2002

Liebe Maturae, liebe Maturae,
Sehr geehrte Eltern,
Meine Damen und Herren

Als Herr Rektor Hirschi mich vor einiger Zeit gefragt hat, ob ich gegebenenfalls bereit wäre, an der diesjährigen Maturafeier der Kantonsschule Luzern eine kurze Ansprache zu halten, habe ich, in einem Anhauch von Eitelkeit und Naivität, da mich diese Anfrage ehrte, ohne Zögern zugesagt. Es sind nämlich in diesem Jahr genau 36 Jahre her, seit mir an dieser Schule das Maturitätszeugnis ausgehändigt wurde. Seit dieser Zeit, an die ich mich mit nicht geringen Emotionen erinnere, war ich nie mehr an dieser Schule und ich muss zugeben, dass ich auch keinen Kontakt mehr mit meinen damaligen Mitschülern pflege. Ich komme mir deshalb wie ein Auswanderer vor, der nach vielen Jahren wieder einmal in seine Heimat zurückkehrt, dem aber diese Heimat wie ein fremdes Land erscheint. Nachdem mich diese nostalgischen Gefühle, die zweifelsohne Symptome einer beunruhigenden Alterserscheinung sind, eine Zeitlang beflügelt haben, hat sich dann bald die furchterregende Frage eingestellt, was ich denn bei dieser Gelegenheit sagen soll. Der Sinn einer solchen Ansprache kann ja wohl kaum darin bestehen, dass ich Ihnen Fragmente meiner Lebenserfahrung vortrage. Ich gestehe ohne Scham, dass ich eine Zeitlang gezittert habe und meinen unüberlegten Entschluss, das Angebot anzunehmen, bitter bereut habe. Als Philosophieprofessor bin ich zwar gewohnt, über Gott, die Welt und andere schwierige Fragen zu referieren, aber was soll ich, ein eher weltfremder Zeitgenosse, der sich im Schatten von Notre-Dame wohler fühlt als auf den Tribünen des Stade de France, jungen Maturae und Maturi sagen, ohne in den Ton der Kapuzinerpredigt zu verfallen, die im falschen Augenblick gutgemeinte, aber völlig überflüssige Ratschläge erteilt? Als ich dann in dieser eher komischen Situation, - über einen Professor, der nichts zu sagen hat, darf man tatsächlich lachen -, die Verordnung des Bundesrates vom Januar 1995 in die Hand nahm, in der die Bedingungen der Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen gesetzlich festgelegt sind, war ich allerdings ziemlich überrascht und erstaunt, denn was in diesem Reglement im Artikel 5 zum Bildungsziel der neuen Maturität gesagt wird, ist wirklich bedenkenswert und verdient durchaus, dass man sich damit ein paar Minuten auseinandersetzt. Ich weiss nicht, wer die Bildungspolitiker, Pädagogen und Philosophen waren, die diesen Artikel konzipiert und redigiert haben, aber diese Zeilen enthalten einige Ideen, die das Denken anregen und sie werfen auch einige Fragen auf.

Selbstverständlich weist der Text darauf hin, dass die Maturität ein Ausweis jener persönlichen Reife ist, die das Hochschulstudium ermöglicht. Der fragliche Text verbindet aber diese eher triviale Feststellung mit zwei signifikanten Gedanken: Einerseits soll die zur Maturität führende Ausbildung ein gewisses Grundwissen vermitteln und andererseits wird betont, dass die Schülerinnen und Schüler auf ein lebenslanges Lernen vorbereitet werden sollen.

Wenn wir es richtig bedenken, gehören die beiden Aufgaben zusammen; sie verdienen allerdings einen kurzen Kommentar. Wer eine Maturitästprüfung besteht, beweist, dass er einiges weiss, der Stoffumfang ist tatsächlich riesig und der Schwierigkeitsgrad unserer Schweizerischen Maturitätsprüfungen beachtlich. Wenn im kommentierten Text die grundlegenden Kenntnisse, die unter Beweis gestellt werden sollen, mit der Idee des lebenslangen Lernens in Verbindung gebracht werden, dann bedeutet dies nach meiner Meinung, dass das erworbene Wissen begleitet wird durch ein notwendiges Wissen des Nichtwissens. Ich will damit sagen, dass der wahrhaft Wissende sich bewusst ist, dass der Umfang dessen, was er nicht weiss, weit grösser ist als das kleine Wissen, das er erworben hat, besitzt und über das er verfügt.

Verstehen Sie mich richtig, liebe Maturi und Maturae, sie dürfen stolz sein über Ihren Erfolg, der tatsächlich bestätigt, dass sie vieles wissen. Das Maturitätszeugnis beurkundet dies, aber es ist, wenn ich es provokativ ausdrücken darf, zugleich eine Urkunde des Nicht-Wissens, insofern es belegt, dass sie das Suchen, das Fragen und das Zweifeln, ohne die es keinen Fortschritt im Wissen und kein gelungenes Zusammenleben der Menschen gibt, gelernt haben. Ich hoffe, Sie verlassen diese Schule nicht nur als Wissende, sondern vor allem als Fragende. Jeder Tag eines menschlichen Lebens gibt Anlass zum Staunen und zur Bewunderung, denn tagtäglich lernen wir Neues kennen und machen neue Erfahrungen. Wer in dieser Weise ein wissender Unwissender ist, der geht nicht nur mit offenen Augen durch die Welt, sondern besitzt auch jene Kommunikationsfähigkeit, von der der Text der Maturitästverordnung ebenfalls spricht. Was meint in der Tat Kommunikationsfähigkeit? In erster Linie denken wir bei diesem Wort an die Fähigkeit, andern etwas mitzuteilen, aber diese Deutung des Wortes ist völlig unzureichend. Eine wirkliche Kommunikationsfähigkeit schliesst das Vermögen ein, auf andere zu hören. Aber wir sind nur dann wirklich fähig, auf andere zu hören, anderen zuzuhören, wenn wir davon überzeugt sind, dass sie uns etwas zu sagen haben und vor allem, dass wir von ihnen etwas lernen können.

Ein weiterer bedeutsamer Gedanke ist in der Verordnung ausgedrückt, wenn den Maturanden, die „Fähigkeit zum selbständigen Urteilen“ zugesprochen wird. Der Dichter Bert Brecht hat diesen Aspekt in prägnanter Weise formuliert:

„Scheue dich nicht zu fragen, Genosse!
Lass dir nichts einreden
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.“

Wenn der Text der Maturitätsverordnung von selbständigem Urteilen spricht, dann kommt darin die Idee der Aufklärung zur Sprache, die den selbständigen Gebrauch der Vernunft als das Ziel jeder Erziehung betrachtet. Niemand hat diesen unverzichtbaren Gedanken besser ausgedrückt als der Philosoph Kant, in jenem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“. Ich darf hier an diese wichtige Stelle, die Sie gewiss kennen, erinnern:

„Aufklärung, sagt Kant, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“


Grafik: Rebekka Tanner 6Ld

 

Das Programm, das hier beschrieben wird ist klar: fähig sein, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen können. Ziel der Bildung und Ausbildung ist demnach die Erziehung zur Mündigkeit, zur Autonomie im Denken, Urteilen und in der Lebensführung. Niemand kann mit stichhaltigen Gründen die Legitimität dieses hohen Ideals bestreiten, aber dennoch wage ich zu behaupten, dass diese Umschreibung des Ziels der Maturität nur die halbe Wahrheit erfasst, so wie die Rede vom Erwerb grundlegender Kenntnisse nur einen Teil der wahren Bedeutung des Bildungszieles zur Sprache bringt. Wer wirklich gelernt hat, selbständig zu denken, der kann noch einen weiteren Schritt vollziehen und er vermag, die Grenzen der eigenen Autonomie wahrzunehmen. Kant selber gibt uns zu diesem Schritt einen wertvollen Hinweis, wenn er gleichzeitig mit der Maxime des Selber-Denkens einen zweiten Imperativ vorträgt: „Sich in die Stelle jedes anderen zu denken.“ Was ist damit gemeint? Wenn wir wissenschaftlich denken, dann ist dieses Bemühen durch den Versuch gekennzeichnet, unseren eigenen, begrenzten Gesichtpunkt zu überwinden und einen Standpunkt zu erreichen, der nicht bloss für mich gilt, sondern für mehrere, im besten Falle für alle Menschen. Diese Anstrenung kennzeichnet nicht nur die exakten Wissenschaften, die diesen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, sondern hat auch für die Geisteswissenschaften Geltung. Wenn jemand ein Bild von Paul Klee deutet, einen Roman von Max Frisch interpretiert oder die Philosophie von Michel Foucault erklärt, dann geht er davon aus, dass er von anderen verstanden werden kann, was nur möglich ist, wenn er eine Sprache spricht, die vielen Menschen gemeinsam ist und wenn er von Dingen spricht, die seine eigene Privatwelt transzendieren.

Ich glaube allerdings, dass Kant noch etwas anderes andeuten will, was mir noch wichtiger scheint als die in der Wissenschaft gesuchte Überwindung des eigenen, notwendig begrenzten Standpunktes: sich in die Stelle jedes anderen zu denken, diese etwas umständliche und ungelenke Ausdrucksweise des Königsberger Philosophen des 18. Jahrhunderts deutet an, dass der selbständige Mensch, der sich in seinem Denken von niemandem lenken lässt, einsehen kann, dass es den anderen Menschen gibt, dass der andere ein ebensolches Recht auf seine Selbständigkeit hat wie er selbst. In dieser denkend vollzogenen Anerkennung des anderen findet die Aufklärung ihre Vollendung, denn sie ist unerfüllt, solange sie nur der Selbstbehauptung des Einzelnen dient. Wenn wir den Text der Maturitästverordnung genau genug lesen, dann stossen darin sogar auf diesen Aspekt. An einer Stelle ist in einer etwas unglücklichen Formulierung von „ethischer Sensibilität“ die Rede. In der Tat ist die Achtung des anderen die Grundlage jeder Ethik, aber dieser Respekt ist keine Sache der Sensibilität, sondern vernünftigen Nachdenkens. Der Artikel 5 endet schliesslich mit folgendem wichtigen Satz, der in einer anderen Diktion das beinhaltet, was ich anzudeuten versuche:
„(Maturandinnen und Maturanden) sind bereit, Verantwortung gegenüber sich selbst, den Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur wahrzunehmen.“

Ich habe ich am Anfang dieser Ausführungen etwas abschätzig über die Kapuzinerpredigt geäussert. Jetzt, am Ende muss ich mich selbstkritisch fragen, ob ich nicht von mir selber gesprochen habe, indem ich glaubte, mich über einen anderen lustig zu machen. Noch einmal können wir die Schwierigkeit der Situation ins Auge fassen: Sie feiern einen Erfolg, der zugleich den Abschluss eines vollendeten und den Anfang eines neuen Lebensabschnittes bedeutet. Wäre es am besten gewesen, wenn ich Ihnen schlicht zu Ihrem Erfolg gratuliert hätte? Auf meine Weise habe ich dies versucht, indem ich Ihnen kurz erklärt habe, welche Bedeutung ich in dem Ereignis, das Sie feiern, sehe. Ich möchte diese Gratulation abschliessend mit einem guten Wunsch verknüpfen, mit dem Wunsch nämlich zu einer guten Reise. Um diese unerwartete Aussage zu erklären, muss ich an einen eigentümlichen Satz des französischen Philosophen Blaise Pascal erinnern: „Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, nämlich, dass sie nicht in einem Zimmer bleiben können.“ Dieser Satz gründet auf einem Verständnis des Menschen, das ich nicht teile. Ich sehe den Menschen eher als Nomaden denn als sesshaften Hausbewohner. Wir sind, zumindest geistig, wenn wir lesen, fragen und suchen, kurz wenn wir geistig arbeiten, stets unterwegs. Wir sind, wenn wir, - und hier trifft sich Ihr Schicksal mit dem meinen -, wir sind, wenn wir, nach der Zielvorstellung der Maturitätsverordnung lebenslänglich Lernende sind, Auswanderer, die nie heimkehren. Das Studium an einer Universität, das die meisten von Ihnen im Herbst beginnen werden, ja das menschliche Leben insgesamt ist wie eine Reise, bei der wir den Ort, wo wir angekommen sind, verlassen, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Der Maturitätsausweis und das Wissen, das er symbolisiert, ist seinerseits einem Reisepass ähnlich, der es ermöglicht, fremde Welten zu erkunden. Ich sage, der Mensch sei ein Auswanderer, der nie heimkehrt, nicht deshalb, weil er völlig heimatlos wäre, sondern weil die Heimat, ich meine den Ort, wo der Mensch zur Ruhe kommt und sich wohl fühlt, nicht hinter uns liegt, sondern ein Ziel ist, nach dem wir uns sehnen, ein Ziel zu dem wir unterwegs sind. Für diese lange, aber faszinierende Reise wünsche ich Ihnen, liebe Maturi, das Beste.

 

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aktualisiert am 4.7.2002, brief.gif (134 Byte) webmaster