Maturarede an der Maturafeier des Wirtschaftsgymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Sehr geehrte Damen und Herren der Behörden
Liebe Eltern und Kolleginnen und Kollegen und ganz speziell nicht zu letzt 
Liebe Maturandinnen und Maturanden

denn ich habe den einmaligen Auftrag erhalten, als Klassenlehrer der 7 W c, Fachlehrer für BR in den Klassen 7 W c/f und VW in der Klasse 7 Wd, aber auch als Vater zu Euch einige letzte Gedanken auf den Weg geben zu dürfen, bevor Ihr diesen Lern- und Lebensraum Kantonsschule Luzern am Alpen-quai verlässt.

Ihr habt hier viel gelernt. Verschiedene Kollegen werden Euch fast pathetisch erklärt haben, dass Ihr jetzt so viel wisst wie noch nie. Ihr könnt New Economy von Old Economy unterscheiden, wisst, wie man mit der Gentechnologie Menschen klonen kann, Ihr wisst alle Elemente des Periodensystems auswändig, Ihr wisst, wie man in mindestens zwei Fremdsprachen hunderte von Verben blind und schnell konju-giert. Ihr wisst, wie man einen BAB erstellt und sogar zum richtigen Resultat kommt und mit zig Kennzahlen eine Unternehmung analysiert. Ihr wisst jetzt fast alles - nein: Ihr wisst jetzt alles besser!
Aber habt Ihr auch verstanden, was Ihr wisst. Habt Ihr verstanden, dass die New Economy schon wieder alt ist, oder mindestens warum sie in den USA schon wieder alt aussieht? Habt Ihr die Gefah-ren der neuen Technologien hinterfragt, seid Ihr von Euren Lehrern und Lehrerinnen gezwungen wor-den, mal darüber zu hirnen, was man mit Wissen alles aufbauen, aber auch zerstören kann?
Könnt Ihr Euch in den gelernten Fremdsprachen wenigstens verständigen und habt Ihr verstanden, was in einer Unternehmung und hinter ihren Zahlen wirklich steckt?

Reines Fachwissen kann jeder Trottel im Internet finden. Dieses ganzheitlich und für die Menschen moralisch verträglich anzuwenden, muss unsere vornehme Aufgabe sein.

Wir haben uns gewöhnt in Modellen zu denken, haben dabei vergessen, was real und was Spiel ist. Wir spielen mit der Realität, indem sich Subsysteme herausgelöst und auf einzelne Aufgaben speziali-siert haben. Wir tun so, als ob unsere Aktivität keine weiteren Auswirkungen hätte. Wir brauchen nur noch Wissen und Geld - ein guter Ruf oder eine Moral mit Sicht auf das Ganze ist nicht mehr gefragt. Wir sind fähig, in unserem wohlstandsverwöhnten Zentrismus nur noch auf uns zu schauen und mit einer enormen kurzfristig orientierten Leistungfähigkeit unsere Vorteile zu erringen. Die Subsysteme haben sich in ihrer Effektivität verselbständigt, und ihre Eigendynamik scheint unbremsbar zu sein.

Wer sorgt sich noch für das Ganze? Die Philosophie und Politik sollten - so paradox dies klingen mag - darauf orientiert sein, sich für das Ganze, das moralisch und ethisch Uebergeordnete zu interessieren.
Wann habt Ihr zum letzten Mal eine Nacht lang philosophiert, über die 4. und 5. Di-mension des Rau-mes oder über Utopia nachgedacht? Dafür haben wir schon gar keine Zeit mehr. Sie läuft immer schneller und lässt uns keinen Stundenhalt für das Wesentliche! Wir verkürzen das Gymnasium und glauben durch das Einfügen von ein paar Philosophiestunden mit den 16-jährigen mal über irgend etwas nachdenken zu können.
Politische Bildung wird in der neuen Matura als integriertes Fach zur Meinungsbil-dung angeboten. Doch haben wir den Mut, Bildung zuzulassen oder gibt es wieder nur Vermittlung von Wissen, Mecha-nismen und Modellen?
Gibt es heute noch Politiker, die einen längeren Zeithorizont haben, als bis zu den nächsten Wahlen, also nicht nur zentristisch ihren eigenen Vorteil suchen und alles andere vergessen?

Zufälligerweise ist mir vor einem Monat das Buch "Risiko Dialog" - Zukunft ohne Harmonieformel - von einer an der Uni St. Gallen tätigen Gruppe von meinem Handelslehrerkollegen am Gymnasium Stans ausgeliehen worden. Die Autoren beschreiben treffend diese Gefahr der Partikularinteressen, die we-gen fehlender Politik und Moral nicht mehr zusammengeführt werden können.
Sie sehen vier Problemkreise:
1. Die Externalisierung der Probleme: Da jedes Subsystem nur für die eigenen Leistungsgebiete zu-ständig ist, muss es aus Effizienzgründen die auftretenden, fremden Probleme externalisieren, out-sourcen. Also muss die Wirtschaft verkaufbare Produkte produzieren, für die Abfallprobleme fühlt sie sich nicht zuständig. Meine Studentinnen und Studenten werden schmunzelnd an die im Unterricht dargestellten Beispiele im Wegwerf- und Spielzeugbereich (Handy, Kickboard, Taschenrechner-Computer) zurückdenken.
2. Strukturelle Verantwortungslosigkeit: Weil jedes der Teilsysteme hohe Eigenver-antwortlichkeit hat, gibt es niemanden, der für das Ganze Verantwortung überneh-men kann. Es bleiben Ratlosigkeit und wie die Autoren wörtlich schreiben: "Es ist das Merkmal eines Zeitalters der Hilflosigkeit."

 
 
 
 

3. Wir bleiben so im mechanistischen Ansatz stecken, indem wir die Hilflosigkeit mit "mehr machen" überdecken; mehr Gesetze, mehr Gewinn, mehr Umsatz usw. und immer Schuldige suchen, wenn dies nicht so läuft. Sündenböcke sind dann andere Disziplinen, die Wirtschaft, die Technik und wieder die Politik.
4. Wir entziehen andern mittels eines eigenen Kommunikationsschemas die Diskus-sionsbasis. Wir verstehen einander nicht mehr. So haben wir immer recht, der andere aber falsch. Das Wissen ist vermeintlich auf unserer Seite. Leistungssteigerung durch Wissen ist auf der einen Seite verlangt, im Rahmen des Ganzen sich verstehen zu können aber auf der andern Seite. Es braucht also Ueber-setzungsprogramme, eine Sprache, die andere nicht in diesem partiellen Feld Tätige verstehen kön-nen.
Spontan wird man dazu neigen, Forderungen an die andern zu stellen und an ihre Gesamtverantwor-tung zu appellieren.

Die wirtschaftliche Tätigkeit war ursprünglich darauf ausgerichtet, physische und organische Grundbe-dürfnisse zu befriedigen. Später ging es um die Absicherung des Bedarfs, um Zukunftssorge und die Knappheit zu überwinden. Damit hat sich die Knappheit aber vermehrt. Nur Wachstum hat dieses Knappheitsparadoxon über-winden können und das bedeutet anderseits, dass mit spezialisieren tech-nischen Produktionsverfahren eine immer stärkere Belastung der ökologischen Lebens-grundlagen entstanden ist.
Diese Belastung kann wieder nur durch Wachstum und technischem Fortschritt überwunden werden. Um das zu erreichen, müssen wir noch partieller unser Wissen in die Forschung einsetzen, also von immer weniger immer mehr erreichen. Das Wissen wächst täglich exponentiell und lässt uns den Ge-winn im partikulären Bereich auf Kosten der andern - auch Schwächeren, die uns nicht mehr verstehen - ständig vergrössern. So entsteht reich und arm und die Lohnspirale öffnet sich ja in unmoralischer Art und Weise.

Ihr seid auf dem Höhepunkt dieser Erkenntnis von Wachstum und Fortschritt in den "Golden Eigthies" geboren worden. Mit dieser Erkenntnis allein können wir aber die Probleme unserer Zeit nicht mehr lösen!
Muss es nicht eine Aufgabe sein, dann wenn Ihr nun diesen Lebens- und Lernraum Kanti Luzern ver-lässt und jeder und jede in einen neuen Lebens- und Lernraum eintaucht, mit Eurem Wissen mal zu hirnen, wie sich diese Spirale auflösen lässt. Vielleicht müssen wir uns alle einwenig bescheidener geben, um das Ueberleben unseres Planeten zu ermöglichen. Oder wie es von Schülern im VW-Zimmer auf einem Blatt aufgehängt worden ist: "Wir leben vom Kapital unseres Planeten, statt von seinen Zinsen".
Ich hoffe, dass solche im VW-Unterricht gemachten Ueberlegungen dazu führen, dass Ihr Eure Ge-danken vor jedem Entscheid trotz Spezialisierung auf das Ganze ausrichten könnt.

Sorge und Angst begleiten nämlich jene, die das Gesamtsystem im Auge behalten. Sie warten auf Euch! Je mehr gebildete Leute so zu denken beginnen, je rascher kann die Verantwortung für die Exis-tenz unserer Lebensgrundlagen wahrgenommen und durchgesetzt werden. Real haben wir nur eine Erde. Damit zu spielen kann gefährlich sein. Versteckt Euch also nicht hinter einem kurzsichtigen, den Grosskon-zernen hörigen Bush, sondern tretet nachhaltig hinter dem Busch hervor und trägt Hoffnung für Menschen, Tiere und Pflanzen hinaus in Euren neuen Lebens- und Lernraum.
Wenn Ihr das verstanden habt, dann könnt ihr mit gutem Gewissen Euer Wissen vom Alpenquai mitnehmen.
Ich wünsche Euch Mut, auch gegen den Strom schwimmend, den Blick auf das Ganze, auf alle Nebenwirkungen zu bewahren und wünsche Euch Glück, einen ganz kleinen Beitrag zur Verbesserung unserer Lebensgrundlagen beitragen zu können. Macht's gut und lasst uns hier Gebliebene bei einem Besuch wiedermal wissen, ob Euch das gelungen ist!

 

Jörg Hochstrasser, mag. oec. HSG, Klassenlehrer 7Wc
22. Juni 2001

aktualisiert am 29.6.2001, brief.gif (134 Byte) webmaster