Gedanken an der Maturafeier des Realgymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Liebe Maturae, liebe Maturi
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Ich möchte heute über die Mathematik zu Ihnen sprechen. Drei Gründe bewegen mich dazu. Erstens habe ich heute zum ersten Mal Gelegenheit, eine Rede vor Maturae und Maturi des Typus C zu halten. Und ich gehe davon aus, dass Sie alle eine Affinität zur Mathematik haben. Zweitens durfte ich in diesem Schuljahr zahlreiche Mathematikerinnen und Mathematiker kennen lernen. Der Grund dafür ist, dass wir für das nächste Schuljahr über 100 Lektionen Mathematik zu besetzen hatten und deshalb zahlreiche Vorstellungsgespräche zu führen waren, in denen ich viel über die Motivation der Kandidatinnen und Kandidaten, gerade dieses Fach zu studieren und zu lehren, erfahren habe. Der dritte Grund ist, dass ich die Mathematik selber seit meiner Schulzeit liebe und diese Liebe ist bei meinen Begegnungen mit den Kandidatinnen und Kandidaten für die Mathematikstellen wieder neu aufgelebt.

Sie werden es mir nicht übel nehmen, wenn ich Ihnen keine fachmathematische Abhandlung präsentiere. Sie werden darüber sogar froh sein, und dies zu Recht. Da ich nun einmal trotz meiner Liebe zur Mathematik nicht dieses Fach studiert habe, werde ich zu Ihnen aus philosophischer Perspektive über die Mathematik sprechen.

Zuerst aber gebe ich das Wort einem literarischen Liebhaber der Mathematik, präziser der Geometrie, Max Frischs Don Juan. Er sagt seinem Freund Roderigo:
"Hast du es nie erlebt, das nüchterne Staunen vor einem Wissen, das stimmt? Zum Beispiel: was ein Kreis ist, das Lautere eines geometrischen Orts. Ich sehne mich nach dem Lauteren, Freund, nach dem Nüchternen, nach dem Genauen; mir graust vor dem Sumpf unserer Stimmungen. Vor einem Kreis oder einem Dreieck habe ich mich noch nie geschämt, nie geekelt. Weißt Du, was ein Dreieck ist? Unentrinnbar wie ein Schicksal: es gibt nur eine einzige Figur aus den drei Teilen, die du hast, und die Hoffnung, das Scheinbare unabsehbarer Möglichkeiten, was unser Herz so oft verwirrt, zerfällt wie ein Wahn vor diesen Strichen. So und nicht anders! sagt die Geometrie. So und nicht irgendwie! Da hilft kein Schwindel und keine Stimmung, es gibt eine einzige Figur, die sich mit ihrem Namen deckt. Ist das nicht schön?"

Diese Eloge auf die Geometrie vertraut Don Juan seinem Freund an, nachdem er bei sich und seiner Braut den Sieg der Leidenschaft über die Verlässlichkeit kennen gelernt hat, und aus Gründen der Konsequenz das eheliche Ja-Wort vor dem Priester verweigert. Die Geometrie wird für Don Juan gewissermassen zu einer heilen Gegenwelt zu seinem von flüchtigen Liebesabenteuern und deren Folgen geprägten Leben.

Die Faszination der Mathematik ist alt, und sie wurzelt tief in menschlichen Grunderfahrungen. Sie reicht zurück bis an die Anfänge der abendländischen Kultur und ihre Vorläufer lassen sich zurückverfolgen bis in die Hochkulturen Babylons und Ägyptens. Es ist wohl die Rationalität, die Verlässlichkeit, die Ordnung im Kontrast zur Launenhaftigkeit, zur Unstabilität, zum Chaos im menschlichen Leben, die das Faszinosum der Mathematik ausmacht.

In der Faszination der Mathematik mag ein Nachklang jener göttlichen Bestätigung der Schöpfungswerke mitschwingen, wie wir sie im ersten Kapitel des Buches Genesis, in der ersten Schöpfungsgeschichte nachlesen: "Und Gott sah, dass es gut war." Wo das Tohuwabohu, wo das Chaoswasser und Finsternis waren, schafft Gott eine lebensfreundliche Ordnung. Den Triumph der Ordnung über das Chaos, der in der Bibel und auch in Erzählungen anderer Kulturen in der bildhaft-anschaulichen Form des Mythos ausgedrückt wird, finden wir wieder in ausgearbeiteten mathematischen Spekulationen bei den frühen griechischen Philosophen. Etwa zur gleichen Zeit, als die zitierte Schöpfungserzählung der Priesterschrift verfasst wurde, nämlich im 6. vorchristlichen Jahrhundert, formulierte Pythagoras eine metaphysische Theorie, gemäss der die Wirklichkeit von einer mathematischen Ordnung bestimmt werde. Die Pythagoreer entwickelten auch die Vorstellung einer Harmonie des Sphären, von der sich noch Johannes Kepler leiten liess. Für die Pythagoreer hatte die Mathematik aber auch eine moralische Bedeutung. Nach der mathematisch bestimmten Ordnung des Universums hat sich der Mensch auch in seinem Handeln zu richten. Moralisches Handeln bedeutet Bewahrung der kosmischen Harmonie. Die Mathematik bestimmte für Pythagoras das ganze Leben und es erstaunt nicht, dass er im süditalienischen Kroton mit seinen Anhängern in einer ordensähnlichen mystischen Gemeinschaft lebte.

Unsere heutigen Mathematikerinnen und Mathematiker leben in der Regel nicht in ordensähnlichen Gemeinschaften, und viele von ihnen würden sich auch nicht mit den mystischen Implikationen der pythagoreischen Mathematik identifizieren. Aber mehr noch: Spätestens im 19. Jahrhundert ist die Vorstellung einer geordneten, harmonischen Wirklichkeit, die uns auch ein Modell für unser moralisches Handeln abgibt, in die Krise geraten und hat dem Nihilismus Platz gemacht, der Überzeugung, dass es nichts ist mit der kosmischen Ordnung, von der wir Halt und Orientierung erwarten können. 
Wo bleibt nun die Freude an Ordnung und Harmonie? Gewiss hat die Mathematik ihren Siegeszug in den Naturwissenschaften und in der Technik angetreten. Dank der Mathematik sind wir auf dem Mond gelandet und haben Atome gespaltet, haben Krankheiten besiegt und Computer gebaut, haben Städte ausradiert und Lebensmittel in Fülle produziert, haben Pensionskassen eingerichtet und Finanzinstrumente entwickelt. Mit der Mathematik haben wir uns die Natur dienstbar gemacht, für gute und für schlechte Zwecke. Doch wo bleibt jene allumfassende Ordnung und Harmonie, in deren Einklang die Pythagoreer zu leben strebten? Ist nicht das Chaos durch die technische Umsetzung mathematischer Modelle potenter geworden?

Meine Damen und Herren, Nietzsche hat den Nihilismus, die Einsicht, dass es nichts ist mit der objektiven Weltordnung, die uns Halt und Orientierung gibt, als geistesgeschichtliches Faktum diagnostiziert, das wir zur Kenntnis zu nehmen hätten, ob es uns passe oder nicht. Und ich glaube, er hatte Recht damit.

Trotzdem glaube ich nicht, dass die Sehnsucht nach Ordnung, nach Harmonie, nach Verlässlichkeit als naive Illusion aufgegeben werden muss. Wohl müssen wir uns davon verabschieden, einfach von einer vorgegebenen kosmischen Ordnung Mass zu nehmen. Denn wir sind uns bewusst geworden, dass diese Ordnung ein Produkt unserer Vernunft ist. Doch nichts hindert uns daran, danach zu streben, Ordnung und Harmonie untereinander zu schaffen, statt uns mit Egoismus und Unterdrückung und den entsprechenden chaotischen Verhältnissen abzufinden. Wenn es stimmt, was mir kürzlich einer unserer Mathematiklehrer gesagt hat, wären Sie, liebe Maturae und Maturi als Absolventinnen und Absolventen des Realgymnasiums für die Umsetzung von Ordnung, Verlässlichkeit und Harmonie im zwischenmenschlichen Bereich besonders prädestiniert. Der besagte Mathematiklehrer hat nämlich die Behauptung aufgestellt, Mathematiker hätten eine höhere Sensibilität für Gerechtigkeit als andere Leute. Vielleicht hat er damit gemeint, dass Mathematiker intensiver wünschten, dass jene Verlässlichkeit und Rationalität, welche die Mathematik nun einmal bietet, auch im zwischenmenschlichen Bereich verwirklicht werde.

So weit so gut! Doch was wäre das für eine Ordnung, wenn wir nach Nietzsche davon ausgehen müssen, dass es die metaphysische Ordnung als Massstab für unser Handeln nicht gibt, dass wir vielmehr bloss unsere eigenen Wertvorstellungen zum Absoluten erhöben, wenn wir weiter so täten, als gäbe es sie. Nun, die gesuchte Ordnung ist uns erstens nicht einfach vorgegeben, sondern sie ist uns zu schaffen aufgegeben. Und zweitens: Der Einzelne kann sie nicht von sich aus allein errichten, sondern nur im Dialog mit Andern. In einem Kommentar zu seinem "Don Juan" schreibt Max Frisch, dass Don Juan trotz seiner 1003 Liebschaften ohne Du bleibe und also kein Liebender sei. Liebe würde bedeuten, die Bedürfnisse des Andern ebenso wichtig zu nehmen wie die eigenen. Wenn Don Juan im Dialog mit dem Gegenüber eine gerechte Ordnung, Verlässlichkeit und zwischenmenschliche Harmonie finden könnte, würde er erlöst. Er würde erlöst aus seinem Gefängnis der Geometrie als blosser Gegenwelt zum realen Chaos in seinem Leben. Er würde erlöst von der Langeweile nichtiger Abenteuer und hingeführt zur Entdeckerfreude, die eine echte zwischenmenschliche Begegnung mit sich bringen kann.

Liebe Maturae und Maturi, die Mathematik repräsentiert eine Welt der Ordnung und Harmonie gegen das Chaos, eine rationale Welt. Dies macht ihre Faszination aus. Bewahren Sie diese Faszination! Ich wünsche Ihnen aber am Ende Ihrer Gymnasialzeit mehr. Ich wünsche Ihnen, dass sie erleben können, dass zumindest Inseln der Ordnung, Verlässlichkeit und Harmonie in zwischenmenschlichen Beziehungen möglich sind und dass es manchmal mit gegenseitiger Unterstützung gelingt, diese Inseln zu vergrössern.

Dr. Hans Hirschi, Rektor OG
Luzern, 20.6.2001

aktualisiert am 10.7.2001, brief.gif (134 Byte) webmaster