Maturarede an der Maturafeier des Literargymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Vom Vulkan und vom Feuer am Herde

Liebe Maturae
Liebe Maturi

"Füürio, de Züüsli chunnt" heisst ein Teil in Eurer Maturazeitung. "Wo aber ist die Flamme?" (frage ich und halte ein Streichholz in die Höhe.) Sie ist schon da, im Holz - um sich zu offenbaren, fehlt ihr nur ein biss-chen Reibung. Und schon brennt das Zündholz (wird vorgemacht). Auch viele von Euch haben sich reiben und entflammen lassen, für die Gym-nasialfächer, für Kunst und kantiG, für StV oder Samichlaus!

Feuer habe ich bei Euch immer wieder gespürt; das Feuer steht auch für die Prüfung, die Ihr soeben bestanden habt - sozusagen die praeuniver-sitäre Feuerprobe. In diesem Sinne wird das Feuer massstäblich - beim Kommen und Gehen - "hire and fire", wie eine amerikanische Redeweise besagt, anstellen und wieder feuern. Doch Euer Abgang, liebe Maturan-dinnen und Maturanden, hat mit Gefeuertwerden glücklicherweise nichts zu tun, und so wünsche ich mir, es sei weiterhin Feuer dabei. Und zwar von dem Feuer, von dem in gleicher Weise gilt, dass es ausserhalb von uns brennt wie auch in uns - so wie ein Lied schon ohne Ton ein Lied ist. Damit ist gemeint: Auf das Feuer in uns kommt es an. Das Feuer aus-serhalb von uns und das Feuer in uns sind letztlich eins. Wie oben, so unten - wie aussen, so innen, und umgekehrt. Die Welt, wie sie existiert, sie war und ist und wird sein ein ewig lebendiges Feuer, aufflammend nach seinem Mass und wieder erlöschend nach seinem Mass. So sahen die alten Griechen das Feuer. Die Liebe zu einer Sache, die Passion fürs Studium lebt vom Feuer der Begeisterung. Es genügt nicht, bei sich sel-ber zu bleiben. Die Dinge wollen ergriffen sein, nach dem Mass, wie man selber ergriffen ist.

Dieses innere Feuer, genährt vom Holz einer nicht versiegenden Her-zenskraft und vom Sauerstoff des Idealismus, nennen wir feu sacré. Es hat mit Herzblut zu tun, mit Enthusiasmus. Dies hab' ich bei Euch erlebt. Und natürlich kommt es nicht nur darauf an, ob Ihr Euch für etwas ent-flammen lässt. Nicht minder wichtig ist, wofür oder gar wogegen Ihr Euch entflammen lässt. Das Lob der Begeisterung hängt, wie das Lob der Tapferkeit, von der Gerechtigkeit der Sache ab. Gewiss wird das Enga-gement durch seine Sache geheiligt. Gilt aber nicht auch das Umgekehr-te? Eine Sache gewinnt an Wert, wenn ich mich dafür entflammen lasse. Dieses Feuer wärmt, stimuliert, steckt an.

Auf der Einladung zur heutigen Maturafeuer lächelt uns die Gioconda entgegen, das berühmte Meisterwerk von Leonardo da Vinci. Ihr Schöp-fer war ein uomo universale, ein wahrer Vulkan von einem Menschen. Vom Eros der Kunst und gleichzeitig vom Eros der Wissenschaft beflü-gelt, hat er Werke geschaffen, die unvergänglich zur abendländischen Kultur und Zivilisation zählen. In seiner Genialität ist Leonardo aber doch einsam geblieben. Es wäre vermessen, einen Leonardo da Vinci für Euch, liebe Maturi und Maturae, oder für unser Gymnasium als Vorbild zu nehmen. Zwischen dem, was an einer Maturitätsprüfung verlangt wird - seien Stoff und Methoden noch so anspruchsvoll - und der durch keine Schulweisheit einholbaren kreativen Kraft des grossen Genies aus der Toskana, da klaffen Welten. Das Feuer dieses Geistes scheint ausser-halb unserer Dimensionen zu liegen, so wie Gütsch und Pilatus vor un-serer Haustür nicht mit einem Vulkan zu verwechseln sind. Doch ist es überhaupt angemessen, im Zusammenhang mit geistigen und schöpferi-schen Leistungen noch an das elementar Grosse zu appellieren, wo doch Teamwork, Vernetzung, Sozialkompetenzen ungleich bedeutsamer erscheinen?

Was das elementar Grosse, wie es im Bild des Feuers erscheint, für uns wirklich bedeutet, hat meines Erachtens der Dichter Adalbert Stifter tief-sinnig erfasst. In der Vorrede zum Erzählband "Bunte Steine" mahnt er uns, dass wir uns von dem schlechthin Grossen und Gewaltigen nicht verblüffen lassen sollen. Es gelte, im Kleinen das Grosse zu sehen: "... Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen (...) (der armen Leute) empor schwellen und übergehen macht, (die) ist es auch, die die Lava im feuer-speienden Berge empor treibt und auf den Flächen der Berge hinabglei-ten lässt."

Mit anderen Worten: Auch im kargen Herdfeuer waltet vulkanische Kraft, auch mit Kleinem kann Grosses bewirkt werden. Was unsere Arbeit im Alltag betrifft, ist sie nicht vergleichbar mit dem Feuer, das unermüdlich den Herd erwärmt? Ist das im Prinzip weniger bedeutsam als die Erupti-onen des Genies? Bleiben wir bei Leonardo da Vinci: Bei aller Genialität dieses Renaissance-Menschen war seine Wirkung vergleichsweise ge-ring, weil gerade bei ihm das Umfeld fehlte, die alltägliche Feldarbeit, die Wasser- und Feuerträger des Genies. Er war ein grosser Häuptling ohne Indianer. Es fehlten ihm die Menschen, die das grosse Feuer in seinem Sinn in ihrem kleinen Herzen zu widerspiegeln vermochten. So konnte er auf das geistige Klima seiner Zeit bei weitem nicht den Einfluss nehmen, der sonst möglich gewesen wäre. 

 

 
 

Von unvergänglicher Ausstrahlung bleibt hingegen das Lächeln der Gio-conda, des grossen Meisterwerks im Louvre-Museum, im Volksmund Mona Lisa genannt. Auch aus dieser Gestalt leuchtet untergründig ein Feuer. Was mich als Lehrer besonders fasziniert: Sie wirkt nicht nur sel-ber - Neugierde erweckend, sondern von sich aus neugierig. 

Auf der Karte zur Maturafeier von Elia Meier aus der 7Lc sehen wir La Gioconda, Zeitgenossin von Gutenberg, als eifrige, neugierige Leserin. Wie auch immer, guter Lesestoff bleibt auch im 21. Jahrhundert unent-behrlicher Brennstoff einer geistig-kulturellen Existenz. Ich weiss, dass Ihr durch Eure Lehrpersonen in Literatur und Philosophie, in Geschichte und Religion und nicht zuletzt in den Naturwissenschaften nachhaltige Impulse zu weiterer Lektüre erhalten habt, und zwar nicht nur im Bereich der Tages- und Fachpresse, sondern immer wieder mit Blick auf das gu-te Buch. Dieses ist meines Erachtens durch die Angebote im Internet nicht ersetzbar. David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, soll eigens spanisch gelernt haben, um den "Don Quixote" von Cervan-tes in der Originalsprache lesen zu können, jenen grossartigen Roman, für dessen Übersetzung ins Deutsche der Dichter Ludwig Tieck nicht weniger als zwei Jahre benötigte. Ob Leonardo da Vinci oder Cervantes, ob Ludwig Tieck oder David Ben Gurion: immer war auch Feuer dabei - und Reibung.

Liebe Maturae und Maturi, Ihr habt bemerkenswerte Leistungen er-bracht, für die wir Euch aufrichtig gratulieren. Ihr brecht auf zu neuen 
Ufern, während die meisten Eurer Lehrpersonen an ihrem Arbeitsplatz zurückbleiben, aber, wie ich überzeugt bin, mit einem nach wie vor nicht erlahmenden Feuer. Das Gymnasium stellt sich neuen Herausforderun-gen. Trotzdem bleiben Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Leh-rer im Prinzip die nämlichen, mag uns auch die Zeit alle verformen und dabei ein wenig bilden. Der Ofen ist aber hoffentlich nicht aus. Er brenne und prüfe, damit das Gute bleibt. 

Manchmal braucht das Feuer den Wind, damit es am Brennen bleibt: der Wind und das Feuer. Es geht bei unserer Arbeit am Gymnasium nicht um das Erhalten, sondern um die Bewegung, das Bleibende im Wechsel, auch das Glück. Das Feuer lehrt uns das Einfache, das Bleibende und das Grosse schätzen.

Das Einfache: Dieses ist auch beim Lernen immer wieder das Ziel: Wenn nicht zuerst sichergestellt wird, dass eins und eins zwei ergibt, kommt keine Theorie zu ihrem Höhenflug. 

Das Bleibende: Es genügt für das Gymnasium nicht, aktuell zu sein, up to date. Rascher als das Alte veraltet das Neue. Am aktuellsten sind wir, wenn wir das vermitteln, was sonst nirgends vermittelt wird, zum Beispiel Botschaften aus der Antike, die unter dem Namen Humanismus zu allen Zeiten eine Herausforderung bleiben, auch wenn wir über Gentechnolo-gie debattieren. 

Das Grosse zeigt Adalbert Stifter. Bleibt Euch treu, bleibt treu, lasst Euch nicht verblüffen. Das Grösste im Leben haben wir dann erreicht, wenn wir uns selbst gefunden haben. Das wünsche ich Euch. Falls die Schule mit ihrem Fächerkanon, die Matura, auch dort, wo sie ein bisschen un-angenehm und reibend war, dazu beigetragen hat, haben wir das Ziel unserer Bildungsarbeit erreicht - und Ihr habt Euch entflammen lassen. 

"Die Zeit(ist)um" nennt sich Eurer Matura-Zeitung. In diesem Sinne, liebe Maturi et Maturae: Weggehen ist Aufbruch, das Feuer ist nicht erlo-schen, im Ofen wird es auch anderswo erfreulich knistern. Valete!

Dr. Carl Bossard, Direktor KSL
21. Juni 2001

aktualisiert am 29.6.2000, brief.gif (134 Byte) webmaster