Maturarede an der Maturafeir des Wirtschaftsgymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Liebe Maturandinnen und Maturanden,
sehr geehrte Damen und Herren

Ich bin in der Welt,
singt das Kind, klatscht
ans Fenster, sieht
vorbeiziehende Städte, fragt:
Welt, wo bin ich? Und kriegt
keine Antwort.

Wer von Ihnen denkt nicht gerne zurück an die erste grosse Reise, in der Eisenbahn, im Auto oder im Flugzeug? Erinnern Sie sich nicht auch ganz genau an einzelne Begegnungen, Eindrücke, Bilder, Stimmungen? Ist Ihnen die erste Faszination des Fremden nicht auch immer noch gegenwärtig?

Was der Schriftsteller Klaus Merz in seiner kleinen Geschichte andeutet und festhält, hat nicht nur mit konkreten Reiseerfahrungen zu tun. Vielmehr lässt sich der Text auf das Leben insgesamt und damit auch auf die Schule beziehen, also auch auf unseren Weg durch die Welt.

Ihr Weg durch die vergangenen sieben Jahre, liebe Maturandinnen und Maturanden, Ihr Weg war eine besondere Reise. Einige von Ihnen haben die Gelegenheit wahrgenommen und sich dazu im Maturaaufsatz geäussert. Unter dem Titel "Was ich schon lange sagen wollte" haben Sie in Form einer Maturarede zurückgeblickt auf fast zehntausend Schulstunden, auf ebenso viele Pausen, auf prägende Ereignisse und besondere Erfahrungen. In diesen Aufsätzen ist die Rede von Höhen und Tiefen, von Enttäuschungen und Erfolgen, von Ansichten und Einsichten, von Lob und Kritik. Immer wieder.

In Ihren Texten war wenig zu spüren von Anbiederung. Überall bin ich Ihrer Ernsthaftigkeit begegnet, einer Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit einem wichtigen Teil Ihres Lebens. Sie haben erkannt und anerkannt, dass Ihr Leben wesentlich mit der Schule verbunden ist. Es ist Ihnen auch bewusst, dass dies nach der Matura an der Hochschule so bleiben wird, dass die angefangene Reise weitergeht. Sie selber haben verschiedentlich betont, dass das Lernen Ihr Geschäft sei, ein Geschäft, verbunden mit Anspruch und Anstrengung. Deshalb sind Sie dankbar für gute oder gar geglückte Schulstunden und kritisch im gegenteiligen Fall. Und in allem scheint Ihnen immer eines besonders wichtig gewesen zu sein: als Person ernst genommen zu werden.

Heute abend, liebe Maturandinnen und Maturanden, stehen Sie wirklich im Mittelpunkt, heute abend dürfen wir gemeinsam Ihren Maturaerfolg feiern. Wir halten inne. Dies entspricht ja der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Schule, dem griechischen Scholé. Innehalten also wollen wir. Und dies heisst heute für mich wiederum im Sinn des Wortes zur Besinnung kommen bewusst zurück- und vorausschauen.

Liebe Maturandinnen und Maturanden, die Schule hat Sie in den vergangenen Jahren oft fremd bestimmt. Vieles war vorgegeben: Wir Lehrerinnen und Lehrer haben Ihnen beispielsweise im Unterricht vieles ungefragt angeboten. Wir haben Anforderungen an Sie gestellt, Lernleistungen von Ihnen verlangt. Sie haben sie meist erbracht, teils voller Elan, teils widerwillig. Manches ist Ihnen fremd geblieben, gegen manches anscheinend oder scheinbar Unsinnige haben Sie sich gewehrt, anderes aus Bequemlichkeit stillschweigend akzeptiert, wieder anderes voller Interesse aufgenommen und sich eingehend damit beschäftigt.

Nicht immer war Eigenes gefragt, also Leistung als Realisierung von Ihren eigenen Interessen und als Erfüllung von eigenen Ansprüchen. Und doch werden Sie festgestellt haben, dass Sie sich vieles angeeignet haben, im Lernen, in der bewussten Beschäftigung mit dem, was Ihnen vorerst fremd vorkam. Wenn wir nun heute innehalten, dann stellen wir also auch Fragen nach Eigenem und Fremdem. Wir setzen uns mit uns selbst und der Welt auseinander und erfüllen eine wichtige Aufgabe, eine Aufgabe nicht nur der Mittelschule und auch nicht nur der Hochschule.

Wenn wir in dieser Weise innehalten, dann kämpfen wir an gegen die tägliche Hektik, Gedankenlosigkeit, Oberflächlichkeit und Betäubung. Wir setzen uns einem offenen, oft riskanten Prozess aus, der auch zum lustvollen Abenteuer werden kann. Darin liegt die Möglichkeit, neben dem beruflichen Alltagsgeschäft neue, zutiefst menschliche Perspektiven zu finden. Wir stellen Fragen und suchen Antworten, oder umgekehrt.

Unter der Überschrift "Alter Text" heisst es bei Klaus Merz:

Mein Zeigefinger gehört
einer Echsenart an.
Unter der Leselampe leuchtet
die Schuppenschrift auf.

  
 

Diese Form des Innehaltens, diese Art der Begegnung mit Eigenem und mit Fremdem, also der Begegnung mit der Welt, findet für mich zum Beispiel in der Kunst statt, und ich füge bei, vor allem auch in der modernen Kunst. Wenn ich mich mit zeitgenössischen literarischen Werken beschäftige, zu Hause und im Theater, wenn ich moderne Werke der bildenden Kunst betrachte, beispielsweise im Kunstmuseum oder in einer Galerie, wenn ich heutige Musik weitab des gängigen Repertoires höre, irgendwo, aber mit ungeteilter Aufmerksamkeit, dann erweist sich dies für mich als ein Weg in eine Welt, die sich oft nur nach und nach erschliesst. Solche Kunst nimmt mich in ihrer Mehrdeutigkeit als Gegenüber ernst. Solche Kunst verlangt ein Innehalten, denn ich begegne in ihr meist Neuem, Unbekanntem. Es ist keine Kunst der uniformen Geschmacksdurchschnitte. Es ist keine Kunst, die unkritisch und passiv wirklich wahrgenommen werden kann. Es ist eine Kunst, die zur Reflexion führt, zum Nachdenken, über Fremdes und damit auch über Eigenes.

Die Texte von Klaus Merz beispielsweise bringen uns eine Wirklichkeit näher, die über die reale Alltäglichkeit hinaus geht. Es ist eine Welt, welche fordert, weil sie auch denkend erfasst und wiederum zur Sprache gebracht werden muss. Das reisende Kind der ersten kleinen Geschichte und der geheimnisvolle Zeigefinger sowie die Schuppenschrift geben uns höchst anregende Anstösse. Die von alltäglicher Erfahrung und Beobachtung ausgehenden Sätze weiten sich plötzlich, wenn wir ihnen Raum geben. Manches führt zu Einsichten, manches bleibt Geheimnis.

In solchen Momenten wird deutlich, dass sich die Grenzen zwischen dem Fremden und Eigenen verwischen, dass sich trotz aller Präzision keine Eindeutigkeit zeigt. Schon der Titel des kürzlich erschienenen Buchs von Klaus Merz, aus dem die Textbeispiele stammen, unterstreicht dies. "Garn" heisst das dünne Buch vieldeutig. Garn heisst ursprünglich die aus getrockneten Tierdärmen gedrehte Schnur. Garn bedeutet damit auch jede Möglichkeit der Verknüpfung. Garn, Faden, Schnur werden zu Geweben, zu Kleidern, Teppichen, Netzen, die Schutz, Wärme und Halt geben, die tragen, die aber auch fangen, binden oder gar umgarnen.

So kann dieses Wort heute abend für uns Anregung sein, verweist es doch auf vielfältige eigene Bindungen, auch auf jene unseres Lebens mit der Schule oder des Eigenen mit dem Fremden. Dazu lesen wir unter dem Stichwort "Schule des Lebens" bei Merz prägnante Sätze in aphoristischer Verknappung. Es sind Sätze, die manchmal auf Anhieb befremdlich klingen, zum Widerspruch reizen mögen, Sätze, die uns aber auch unwillkürlich zum Schmunzeln bringen können, Sätze, die nach Stille verlangen, die nach und nach einen für uns eigenen Klang annehmen und sich vielleicht gar in ihrer Bedeutung für uns allmählich wandeln können.

Schule des Lebens

Die Schule des Lebens beginnt um drei Uhr in der Frühe. Ab sieben nur mehr Lappalien.
Es führen Ameisenstrassen unter die Haut.
Ein Abtrünniger presst sein Gesicht auf sein Spiegelbild und fühlt sich zu zweit.
Den Glücksfall vor den Ernstfall stellen. Unbedingt.

Entdecken Sie nicht auch, sehr geehrte Damen und Herren, hinter dem Alltäglichsten plötzlich Besonderes, manchmal Rätselhaftes, Fantastisches, Verspieltes, Geheimnisvolles, Vieldeutiges eben, das sich nicht auf die Materie beschränkt, sondern sich gedanklich weitet in eine gestaltete Darstellung äusserer und innerer Realität?

Ich bin in der Welt,
singt das Kind, klatscht
ans Fenster, sieht
vorbeiziehende Städte, fragt:
Welt, wo bin ich? Und kriegt
keine Antwort.

Liebe Maturandinnen und Maturanden, ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zur erfolgreich bestandenen Matura. Ich freue mich mit Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute für den kommenden Lebensabschnitt: Ich wünsche Ihnen Mut zum Innehalten, zur bewussten Auseinandersetzung mit Eigenem und Fremdem. Ich wünsche Ihnen Selbstbewusstsein und Zuversicht, dass Sie wie das Kind im Text von Klaus Merz singen können. Ich wünsche Ihnen aber auch den Sinn für die Erkenntnis, dass das Kind in dieser Situation, singend, klatschend ans geschlossene Fenster, angesichts der vorbeiziehenden Städte, von der Welt keine Antwort erhält.

Roland Haltmeier
Luzern, 19.6.2000

aktualisiert am 7.7.2000, brief.gif (134 Byte) webmaster