Gedanken an der Maturafeir des Realgymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Von der Durststrecke und von den Oasen des Lebens, oder:
’Menschsein heisst verantwortlich sein’
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Liebe Maturae und Maturi

Die Wüste wächst; weh dem, der Wüsten in sich birgt! verkündete einst von Sils-Maria aus ein Philosoph, der zu den Propheten des 20. Jahrhunderts gerechnet wird: Friedrich Nietzsche. Sein Todestag jährt sich am kommenden 15. August zum 100. Male. Auch einer der grossen Poeten des Jahrhunderts zählt die Wüste zu seinen Lieblingsmetaphern: Ici, c’est le désert. Il n’y a personne dans les déserts. Antoine de Saint-Exupéry. Als Pilot seit 1944 verschollen in der weiten Wasserwüste des Mittelmeeres, könnte er am kommenden 29. Juni seinen 100. Geburtstag feiern. Auch wir vom Realgymnasium der Kantonsschule Luzern halten es diesmal mit der Wüste und ihren Dünen: Die anregende kleine Bildgeschichte auf der Einladung zu heutigen Feier erzählt davon. An der Oase ist die acrylgemalte Komixsequenz von Silvan Kälin überschrieben, mit je einem abendlichen und einem morgendlichen Stimmungsbild: Ah, lueg, die Oase! ruft im Vordergrund der Beduine im Turban. Wohin wohl wird der Kamelpfad noch führen? Das steht nirgends geschrieben. Sicher ist nur die Devise des Aufbruchs, hin zu einem weiteren Zwischenziel. Los zur nächsten Oase! ruft der Kamelführer. Vielleicht sind sogar die Kamele gewechselt worden. Und wie weit werden die gefüllten Wassersäcke reichen?

Am heutigen Tag liegt es nahe, die Symbolik der beiden Bilder mit dem Übergang zu deuten, der mit der Matura und dem Verlassen der Schule gegeben ist: als Weg von einer Ausbildungsstätte, hier etwas schmeichelhaft Oase genannt, zur anderen, der nächsten Oase. Die dazwischen liegenden Ferien oder auch die Rekrutenschule wären somit als Durststrecken zu interpretieren. Diese für unsere Schule vorteilhafte Deutung der Dinge erlaube ich mir mit einem leichten Augenzwinkern.

Ich habe von einem Wechseln der Kamele gesprochen, weil ich im Zusammenhang mit den Lasten nicht nur euch, liebe Maturae und Maturi, sehe, sondern ganz gewiss auch eure Lehrkräfte und deren Leistung. Der Lehrer wird nämlich bei Robert Walser als ein ausdauernder Träger beschrieben, der schwere Lasten schleppt, als eine Art Kamel also. In seinem pädagogogischen Schätzkästlein ‘Fritz Kochers Aufsätze’ steht: "Er - der Lehrer - sieht allerdings nicht besonders schön aus, aber item, es kann nicht alles schön aussehen. Vom Lehrer habe ich die feste Überzeugung, dass er unendlich klug ist. Ich möchte nicht die Last seiner Kenntnisse tragen. Man muss ein besonderes Talent haben, um Lehrer zu sein. Immer seine Würde behaupten vor solchen Schlingeln, wie wir sind, das braucht viel Selbstüberwindung." Heute sehen die Lehrer und besonders natürlich die Lehrerinnen zwar um manches besser aus als vor 98 Jahren, da Robert Walser diese Zeilen schrieb, aber ihre Aufgabe ist gewiss nicht kleiner geworden! Diese Last der Kenntnisse – wie es der Dichter deutet - ist indes nicht zu verwechseln mit der Verantwortung für die Allgemeinbildung, die ihr, Maturandinnen und Maturanden, an niemanden delegieren könnt. Auch nicht nach der Lesart von irgendwelchen Entschuldigungen, was ihr etwa im Geschichts-unterricht oder in einem anderen Fach mit viel Faktenfülle alles nicht gehört hättet. Geschichtsbewusstsein wie überhaupt geistiges Profil bestehen nicht aus dem, was man in der Schule "durchgenommen" hat oder nicht. Eher kommt es auf die Fähigkeit an, aus einem errungenen Bildungsprofil heraus jeweils in einer veränderten Welt Verantwortung zu übernehmen. An euch liegt es, die Wüsten nicht weiter wachsen zu lassen. Und so werdet ihr auch nach dem Abschluss eurer Ausbildung immer wieder neue Oasen zu finden wissen. Davon bin ich überzeugt.

Meine Damen und Herren, er hat nichts von seiner Faszination verloren, der erwähnte grosse Poet der unermesslichen Räume, Antoine de Saint-Exupéry, der Liebhaber der Wüste und der Lüfte, ein Dichter auch, der die Erde sozusagen aus der Weltallperspektive zu betrachten verstand. Viele kennen sein einfühlsamstes, auch sein populärstes Werk, den Kleinen Prinzen, geschrieben für Kinder, gewidmet einem Jugendfreund, à Leon Werth, quand il était petit garçon. Es ist eine Parabel über die Verantwortung. Je kindlicher, desto verbindlicher. Das gilt ganz besonders für ein Meisterwerk der Weltliteratur wie Le Petit Prince.

Un Sens à la Vie, so ist eine Textsammlung von Saint-Ex überschrieben: Dem Leben einen Sinn geben. Und davon ist auf eindrückliche Weise auch im Gespräch des Kleinen Prinzen mit dem Fuchs die Rede. Der Fuchs lehrt den Kleinen Prinzen das Geheimnis von Freundschaft und Liebe. Es besteht darin, dass ein Mensch für den andern Verantwortung trägt, wörtlich: On ne connaît que les choses que l’on apprivoise: «Man kennt nur die Dinge, die man zähmt», das sind jene Dinge, zu denen man Bindungen geschaffen hat, mit denen man sich vertraut gemacht hat. On ne connaît que les choses que l’on apprivoise. Dabei ist jedoch im Hinblick auf die Übersetzung Vorsicht geboten. Das französische Verb apprivoiser ist viel subtiler als jede deutsche Übersetzung. Das lateinische privare, absondern, steckt ebenso darin wie unser deutschsprachiges Fremdwort privat, von der Boulevardpresse manchmal missbräuchlich verwendet in Wendungen wie Bundesrätin Metzler ganz privat und dergleichen mehr. Apprivoiser meint also, in einer höchst intimen Bedeutung des Wortes, sich vertraut machen. Was keineswegs gemeint ist, auf Französisch: domestiquer, dresser oder dompter.

Dass sich Lehrerinnen und Lehrer im Schulzimmer manchmal als Dompteure oder Antreiberinnen vorkommen, will ich nicht weiter erörtern. Derlei ist sicher nicht der Sinn der Lehraufgabe an einem Gymnasium, ebenso wenig wie das dresser nach dem Programm der Drill-Schule von einst, wiewohl ein gewisser Drill manchmal Grundlagen legt fürs Beherrschen elementarer Fertigkeiten, ohne die der Erfolg in der Schule selten zu erreichen ist.

 
 

 

Apprivoiser aber meint etwas ganz anderes, Tieferes, die Vertrautheit, sei es in der Angewandten Mathematik oder in der Muttersprache, in den Fremdsprachen und den Naturwissenschaften und vielleicht am reinsten im Bereich der künstlerischen Fertigkeiten. Être apprivoisé, das ist im Sinn einer zuverlässigen wohlmotivierten Aneignung eigentlich das, was ihr in den geprüften Fächern des Matura-Kanons können solltet oder hättet können sollen. Nun aber wäre es ein arges Missverständnis und dazu noch ein Missbrauch, das Gespräch zwischen dem Fuchs und dem Kleinen Prinzen zum Beispiel mit dem Prüfungsgespräch einer mündlichen Maturitätsprüfung oder gar mit dem Examen an einer Hochschule zu verwechseln. Auch fühlen sich die wenigsten Kandidatinnen und Kandidaten bei solchen Gelegenheiten auf einer Oase. Bestenfalls geht es um den Aufbruch von einer Oase zur nächsten, nicht so sehr um das Ende, als um den Beginn einer neuen Durststrecke.

Für diese neue Durststrecke, aber, so scheint es mir, gibt der Dialog zwischen dem Fuchs und dem Kleinen Prinzen einige beherzigenswerte Ratschläge. Der Fuchs sagt etwas Erstaunliches:

  • Je ne puis pas jouer avec toi, dit le renard. Je ne suis pas apprivoisé. Wir sind nicht vertraut.
  • Was er denn suche? fragt er den kleinen Prinzen. Tu cherches des poules?
  • "Je cherche des amis. Qu’est-ce que signifie "apprivoiser"? Was aber heisst zähmen?
  • "C’est une chose trop oubliée, dit le renard. Ça signifie "créer des liens... "Das ist eine allzu vergessene Angelegenheit, sagt der Fuchs und verrät ihm das entscheidende Mysterium: Es bedeutet "Bindungen schaffen", "sich vertraut machen"...

Im weiteren Gespräch wird noch klarer, was mit apprivoiser gemeint ist: "nous aurons besoin l’un de l’autre", dass der eine den anderen nötig habe, dass jeder den anderen als einmalig auf dieser Welt zu betrachten verstehe, und schliesslich gilt als Bilanz: Wen du dir vertraut gemacht hast, dem bleibst du ein Leben lang verantwortlich.

So weit Saint-Exupéry. Die Aussage geht weit über das hinaus, was mit dem optimalen Aneignen eines Bildungsinhaltes in Verbindung gebracht wird. Es geht um menschliche Bindungen, um persönliche Verantwortung, um Liebe und Freundschaft, und dies kann kein Kanon vermitteln. Verantwortung ist persönlich, sie bewegt sich innerhalb des Bereiches Ich und Du, um eine Formel des jüdischen Philosophen Martin Buber anzusprechen. Im Hinblick auf die Bildung, auch die Maturität, wird sinngemäss gelten: ihr Wert steht und fällt mit dem Beitrag, den sie zur Humanisierung des Wissens und Könnens zu leisten versteht – und zur Humanisierung des Umgangs miteinander.

Dabei geht es, wie das Beispiel von Saint-Exupéry zeigt, nicht nur um einen guten, kollegialen Geist an der Schule, es geht um Inhalte, hier zum Beispiel um französische Literatur als einen geistigen Impuls, der auch für einen Maturanden oder eine Maturandin des Realgymnasiums wertvoll werden kann. Gerade bei Studierenden der naturwissenschaftlichen Richtung kommt es sehr darauf an, dass sie im Sinne des Kleinen Prinzen die Verantwortung gelernt haben.

Die Wüste wächst. Weh dem, der Wüsten in sich birgt. Nietzsches Satz hat im abgelaufenen Jahrhundert eine beklemmende Realität erfahren, nicht nur im Bereich der Verwüstung der Umwelt oder der sogenannten geistigen Umweltverschmutzung. Die innere Wüste hat gewiss auch zu tun mit der Gleichgültigkeit von Menschen gegenüber Mitmenschen und Natur, mit einer gewissen Wegschau-Mentalität. Wir dürfen den Trost der Oase nicht überbewerten, weil wir zur Verantwortung für das Ganze der Schöpfung aufgerufen sind. Das ist, in praktischer Hinsicht, für den Einzelnen eine allzu grosse Verantwortung; die Gefahr ist gegeben, dass sie zu einer blossen Worthülse verkommt oder zu Resignation führt. Wer aber Verantwortung leben will, muss die Bereitschaft zum besonnenen Aufbruch entwickeln, mit genügend Mundvorrat, wie es in der Bildgeschichte von Silvan Kälin angedeutet ist. Die menschliche Vernunft und all die Fertigkeiten, die ihr euch in den vergangenen Jahren angeeignet habt, solltet ihr nicht überschätzen, sondern schlicht gebrauchen und beherzt anwenden! Ihr habt euch mit ihnen vertraut gemacht. Und in diesem Sinne heisst Menschsein (...) verantwortlich sein ("Terre des hommes").

Maturandinnen und Maturanden

Ihr räumt eure Zelte ab, brecht auf, zieht weiter. Aus dem Geiste der mitmenschlichen Verantwortung, wie ihn Saint-Exupéry darlegt, und jenen Impulsen, die ihr in der Schule und in eurem bisherigen Leben gefunden habt, lässt sich mehr als nur der Weg zur nächsten Oase bewältigen. Mensch sein, dass heisst Verantwortung fühlen – seinen Stein beitragen im Bewusstsein, mitzuwirken am Bau der Welt - eingedenk des Satzes: "Es hängt nicht von uns ab, aber es kommt auf uns an!"

Ich danke euch. Valete!

Carl Bossard
Luzern, 15.6.2000

aktualisiert am 7.7.2000, brief.gif (134 Byte) webmaster