Maturarede an der Maturafeir des Literargymnasiums

 

linie5-15.gif (86 Byte) Abschied und Aufbruch
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Liebe Maturae, liebe Maturi
Meine Damen und Herren

Vom Philosophen Demokrit stammt der schöne Spruch: "Ein Leben ohne Feste ist wie ein langer Weg ohne Wirtshäuser". Dass Ihr heute abend, am Ende eines langen und oft mühsamen Weges, festlich gestimmt feiert, dass wir Euch feiern, ist mehr als nur angebracht. Von Herzen beglückwünsche ich Euch alle zur erfolgreich bestandenen Matura. Freut Euch und feiert und fasst neuen Schwung für den bevorstehenden, wohl nicht immer einfachen Weg durch das Studium.

Doch vorerst dürft Ihr eine Atempause einlegen. In dieser Phase des Ausruhens seid Ihr - so hoffe ich - bereit, mir ein paar Minuten zuzuhören, nicht zuletzt deswegen, weil Ihr mir das Thema zu meiner Maturarede geliefert habt. Ihr umschreibt Euren momentanen Zustand mit dem Spruch "Reif für die Insel". Wenn auch dieser Slogan nicht ganz dem entspricht, was wir Lehrer uns als Produkt des Reifungsprozesses vorstellen, bei dem wir Euch über Jahre fördernd oder hindernd begleiteten, habe ich doch Verständnis für diesen Stossseufzer.

"Reif für die Insel!" Keine Angst! Ich werde heute abend nicht über Reife sprechen, fasziniert hat mich als Altphilologen und Liebhaber der Literatur die I n s e l.

"Reif für die Insel!" Für welche Insel? Ihr denkt dabei wohl an tiefblaues Meer, weisse Sandstrände, heisse Nächte - es muss ja nicht unbedingt Mallorca oder Teneriffa sein. Mir tauchen vor dem inneren Auge eine Anzahl Inseln auf, die mehr bieten als Sand und Meer. Darf ich Euch zu einem kleinen gemeinsamen Inselhüpfen einladen.

Da sind die Inseln der Seligen, ein Ort dauernder, heiterer Seligkeit, an den die Lieblinge der Götter unter den Heroen entrückt werden. Wer unter uns, wenn nicht Ihr, hätte es verdient, dorthin zu gelangen. Die Sache hat allerdings einen Haken: Nur wer tot ist, kann sie finden. Und tot zu sein ist wohl das Letzte, das Ihr Euch heute wünschen würdet, jetzt, da das neue Leben der akademischen Freiheit lockt.

Von den Inseln der Seligen spricht auch Horaz1. Erschöpft und überdrüssig der langen blutigen Wirren der Bürgerkriege ruft er seinen Landsleuten zu: "Arva beata petamus, arva divites et insulas!" Lasst uns Kurs nehmen zu den Inseln der Seligen, wo die goldene Zeit nicht verschwunden ist und noch immer urzeitlich-paradiesische Zustände herrschen, wo einem die gebratenen Tauben ins Maul fliegen. Doch ich kann nicht recht glauben, dass Ihr einzig dazu gereift seid, um den drängenden Problemen der Zeit möglichst rasch den Rücken zu kehren. Das wäre doch feiger Eskapismus!

Nein, Ihr dürft Euch nicht drücken; auf Euch wartet eine Insel seltsamer Art, mitten in einem Meer von Ländern, eine, die heutzutage so oft beschworen wird: die Insel Schweiz. Auf italienisch heisst Insel ‘isola’. Sich isolieren, Isolation ist davon abgeleitet. Die Schweiz wartet auf Euch, dass Ihr mithelft, zu verhindern, dass sie in eine selbstgenügsame Isolierung abgleitet. Auch so möchte ich den Spruch "reif für die Insel" verstanden wissen.

Der Einsatz für eine offene Schweiz braucht Visionen, verlangt utopisches Denken. Wo könnt Ihr solche Visionen holen?

Da taucht aus dem Dunkel der Geschichte eine längst versunkene Insel auf: Atlantis, die geheimnisumwobene, von der Platon in seinen Spätwerken Timaios und Kritias berichtet. Sie lag jenseits der Säulen des Herakles und war grösser als Libyen und Asien zusammen und von ihr konnte man damals zu andern Inseln übersetzen, von denen man schliesslich zum jenseitigen, den wahren Ozean begrenzenden Festland gelangte. Die kurze Skizze Platons, die überliefert ist, lässt uns in dichterischer Gestaltung den von ihm früher in seinem Werk "Politeia" in der Theorie so prachtvoll inszenierten ideal-gerechten Staat in geschichtlicher Aktion sehen - nachdem ein Umsetzungsversuch auf Sizilien kläglich gescheitert war.

In den Gesprächen, die Sokrates mit seinen Freunden in der Politeia führt, wird der Idealstaat gesucht, wobei es offen bleibt, ob er in der Wirklichkeit überhaupt hergestellt werden kann oder nicht. Das Ergebnis war - man kann es nicht anders sagen - ein totalitärer Staat. Im vollkommenen Staat Platons ist durch Gesetze schon die Gattenwahl geordnet, ferner das richtige Alter für die Eheschliessung, die Zeitspanne, innerhalb deren Kinder gezeugt werden dürfen, dann die Art der Pflege, Erziehung und Unterrichtung der Kinder von der Geburt an. Nichts soll dem Zufall überlassen bleiben. Überall hat der Staat durch Gesetz zu verordnen, was im Hinblick auf das höchste Ziel zu geschehen hat. Platons von Philosophenkönigen geleiteter Staat ist und bleibt eine Utopie.

Über Jahrhunderte ist der Idealstaat kein Thema mehr, bis dann innerhalb einer kurzen Zeitspanne zu Beginn der Neuzeit drei Werke über den idealen Staat erscheinen:

1515: "Utopia" von Thomas Morus, ein Bericht über eine Insel gleichen Namens

1602: "Der Sonnenstaat" des Tommaso Campanella auf der Insel Taprobana, dem heutigen Ceylon

1624: "Nova Atlantis" von Francis Bacon, der seinen Idealstaat auf die Salomon- inseln im Stillen Ozean verlegt - auf jene Inseln, die dieser Tage nicht gerade entsprechende Schlagzeilen machen.

Ich will Sie nicht mit Einzelheiten dieser drei Werke belästigen, sondern nur ein paar Anmerkungen machen:

Offensichtlich gehören Utopie und Insel zusammen. Auch die Verfasser sind Insulaner: die beiden Engländer Morus und Bacon; der Italiener Campanella hat sein Werk in der Isolationshaft eines Neapolitaner Gefängnisses geschrieben. Das so urgriechisch klingende Wort "Utopia" = "Nirgendland" kannten die Griechen noch nicht, es ist eine Erfindung von Thomas Morus. Alle utopischen Staaten, nicht nur jener Platons, tragen ausgesprochen autoritäre und "kommunistische" Züge: gefordert wird Verzicht auf Privateigentum und Privatsphäre, auf Selbstbestimmung, auf Familie; die Erziehung zum tauglichen Staatsbürger wird staatlich organisiert; die Dichter werden verbannt; die Musik wird eingeschränkt. In ihrem idealen Endzustand sind alle vier - nach einem Wort von Rolf Dahrendorf - ein perpetuum immobile.

Wir waren auf der Suche nach Visionen, nach Inseln, wo utopisches Denken möglich ist und erleben - trotz vieler positiver Ansätze - doch eher einen Albtraum. Ich brauche nur die Namen Orwell (1984), Aldous Huxley (Brave new World) oder das TV-Ereignis "Big Brother" zu nennen, um diesen Albtraum zu verstärken. Wir müssen Atlantis als Ziel vergessen!

 
 

 

"Reif für die Insel" - für welche?

Ich kann Ihnen eine letzte Insel vorschlagen, Scheria, die Insel der Phäaken, an welcher der vielgeplagte Odysseus halbtot landet, die letzte Station seiner unendlich langen Heimfahrt. Von sich und seinen Landsleuten sagt König Alkinoos:

"Als Faustkämpfer sind wir nicht ohne Tadel und auch im Ringen nicht, doch laufen wir schnell mit den Füssen und sind zu Schiff die besten, und immer sind uns lieb Gelage und Feste und Saitenspiel und Reigentänze, und Kleider, sie zu wechseln, und warme Bäder und Ruhebetten."2

Ein festliches Volk also, eine Insel, die ein Leben voller Feste garantiert. Diese Insel kann ich Euch vorbehaltlos empfehlen. Zur Begründung muss ich ein wenig ausholen.

Cicero berichtet folgende Geschichte3: Pythagoras, gefragt, auf welche Kunst er besonders baue, habe geantwortet, er verstünde keine Kunst, sondern sei Philosoph. Sein Gesprächspartner habe sich über den neuen Namen gewundert und gefragt, wer denn die Philosophen seien und was für ein Unterschied zwischen ihnen und den übrigen bestünde; Pythagoras aber habe geantwortet, ihm scheine das Leben der Menschen ähnlich dem Volksfest, das unter prachtvollster Durchführung von Spielen bei zahlreicher Beteiligung von ganz Griechenland in Olympia gefeiert werde. Denn wie dort die einen mit geübten Körpern nach dem Ruhm und der Auszeichnung des Siegeskranzes langten, andere vom Erwerb und Gewinn des Kaufens und Verkaufens geleitet würden, es aber auch eine bestimmte Gattung derer - und sogar die edelste - gäbe, die weder Beifall noch Gewinn suchten, sondern des Schauens wegen kämen und mit Eifer mitansähen, w a s getrieben würde und w i e, ebenso seien auch wir wie in das Getümmel eines Volksfestes aus irgendeiner Stadt so zu diesem Leben aufgebrochen aus einem anderen Leben und Wesen und dienten teils dem Ruhm, teils dem Gelde; selten sei eine Art von Menschen, die alles übrige für nichts achteten und das Wesen der Dinge mit Fleiss betrachteten; die nennten sich der Wahrheit Beflissene, das bedeute nämlich die Bezeichnung Philosophen; und wie es dort am vornehmsten sei zu schauen, ohne etwas für sich zu erwerben, so überträfe im Leben bei weitem alle Beschäftigungen die Betrachtung und Erkenntnis der Dinge (contemplatio rerum et cognitio).

Kontemplation, Schau, griechisch theoria ist das Stichwort. Nochmals muss ich einen kleinen Umweg machen. Theoros ist ein Festgesandter, ein bestimmter Beamter einer Stadt, der als Abgesandter im Auftrag der Stadt zu Götterfesten entsandt wird, entweder um ein Orakel zu befragen oder einfach dabei zu sein und den rituellen Akt mit seiner Gegenwart zu begleiten. Theoria / Kontemplation ist also nicht so sehr eine Weise geistiger Tätigkeit, sondern vielmehr eine bestimmte Weise geistigen Seins, für die das "Sich-nicht-Befassen" charakteristisch ist, das blosse Beiwohnen, bei dem der Gegenstand allerdings ein heiliger, göttlicher, festlicher ist: schauendes Beteiligtsein.

Kontemplation und Fest gehören offensichtlich aufs engste zusammen. Ein paar Gedanken über das Wesen des Festes sollen den letzten Teil meiner Rede bilden. Ich verdanke Sie dem Buch "Zustimmung zur Welt" von Josef Pieper4. Er schreibt:

Ein Festtag ist nicht nur der Tag der Nichtarbeit; Fest als Gegensatz zu knechtlicher Arbeit heisst "freie Tätigkeit", das nicht auf einen Zweck ausserhalb seiner selbst bezogene Tun, welches in sich selber sinnvoll ist und ebendadurch weder im strikten Sinn "nützlich" noch etwas anderem "dienend" oder dafür in Dienst zu nehmen. Ein Fest feiern bedeutet geradezu dasselbe wie "beschaulich werden" und in diesem Zustand den höheren Wirklichkeiten, auf denen das ganze Dasein ruht, unmittelbar begegnen. Das Fest ist wesentlich ein Phänomen des Reichtums, nicht des Geldes, gerade nicht, sondern des existentiellen Reichseins. Das Fest lebt aus der Bejahung; zum Fest wird das Fest allein dadurch, dass der Mensch die Gutheit des Seins durch die Antwort der Freude bekräftigt. Der Mensch übersteigt, indem er das Fest festlich begeht, die Schranken der zeitlich-hiesigen Existenz.

Platon nennt die Atempause der Feste eine göttliche Gründung und fügt hinzu, dass uns die Musen zu Festgenossen gegeben sind. Offenbar kann das Unsichtbare des Festes allein im Medium der Künste und auf keine andere Weise sonst sinnlich-leibliche Gestalt werden. Und auch die Wirkung des Festes, der Ausstieg aus der Zeit und die in den Grund der Seele dringende Erquickung, erreicht den Feiernden als eine in die Sprache der Kunst gefasste Botschaft.

Es wäre aber ganz falsch, den eben erwähnten Ausstieg aus der Zeit zu einem dauernden Ausstieg zu machen, eine Fahrkarte "Phäakeninsel einfach" zu lösen. "Alle Tage Festtag" oder auch nur "jeder zweite Tag ein Fest" - das sind unvollziehbare Vorstellungen. Das Festliche des Feiertags wird erst dadurch ermöglicht, dass er die Ausnahme ist. Es gibt kein Fest - ausser auf dem Grunde eines Daseins, dessen gewöhnliche Gestalt der Werktag ist.

Muss ich noch lange begründen, warum ich Euch von Zeit zu Zeit einen Besuch der Phäakeninsel ans Herz lege, wo Ihr in eine von Festlichkeit geprägte Welt eintaucht, wo ihr in beschaulicher Ruhe, befreit vom Diktat der Zwecke und der Forderungen nach Effizienz, zu Euch selber kommen könnt, damit Ihr nicht in der leider bald wieder notwendigen Aktivität der Werktage einem trostlosen und immer mehr fremdbestimmten Aktivismus verfallt. Vielleicht merkt ihr bald einmal, dass der Besuch des Literargymnasiums mit seinem ach so nutzlosen Latein und Griechisch, mit seinem sprachlich-literarischen und musischen Schwerpunkt, Euch nicht schlecht auf diesen Inseltrip vorbereitet hat.

Wie sehr wäre zu wünschen, dass auch Politiker und Leute der Wirtschaft einmal auf die Phäakeninsel statt auf die Malediven reisen würden.

Doch nun ist es Zeit zu gehen, ihr um zu leben, ich um zu sterben - sagte Sokrates am Ende seiner Schlussrede den Richtern, die ihn zum Tod verurteilt hatten. So dramatisch ist es heute abend nicht. Aber auch für Euch und für mich ist es Zeit zu gehen, Ihr und ich, wir sind reif für die Insel. Vielleicht geht ihr immer wieder mal zu den Phäaken - ich könnte mir für meinen Übergang in den Ruhestand die Insel Patmos vorstellen, die Insel der Apokalypse, der alles enthüllenden Schau. Sarah Haas stellt uns das geeignete Schuhwerk zur Verfügung!

Ich wünsche uns allen eine gute Reise und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Heinz Bieri
Luzern, 16.6.2000

 
Anmerkungen:
1 Horaz, Epode 16, 41f.
2 Homer, Odyssee 8, 246ff.
3 Cicero, Tusculanae disputationes V 8f.
4 Josef Pieper, Zustimmung zur Welt, Eine Theorie des Festes, Kösel-Verlag, München, 1963

aktualisiert am 7.7.2000, brief.gif (134 Byte) webmaster