Ansprache von Direktor Carl Bossard

anlässlich der Maturaschlussfeier des Wirtschaftsgymnasiums und der Handelsdiplomschule

 

Eine Art Plädoyer für eine Matura jenseits von Angebot und Nachfrage 

Liebe Maturae und Maturi

Liebe Diplomandinnen und Diplomanden

Matura machen im Juni heisst gewissermassen im Sommer schon den Herbst verkünden: die Reife, die Ernte kundtun, wie es die Früchteschale auf der Karte zum Ausdruck bringt. Angela Roos hat sie zum heutigen Tag des Abschieds und Aufbruchs gezeichnet. Dazu ein keckes Verslein:

Dort im grünen Baume
Hängt die blaue Pflaume
Am gebognen Ast.
Gelbe Birnen winken,
Dass die Zweige sinken
Unter ihrer Last.

Welch ein Apfelregen
Rauscht vom Baum! Es legen
In ihr Körbchen sie
Mädchen, leicht geschürzet,
Und ihr Röckchen kürzet
Sich bis an das Knie.

So steht es nicht im Album eines modernen Rocksängers, so steht es beim Bündner Johann Gaudenz von Salis-Seewis, geschrieben 1786. Im gleichen Jahr wurde beim Bau eines Kirchturms folgende Botschaft für die Nachwelt eingemauert: "Unsere Tage füllten den glücklichsten Zeitraum des Jahrhunderts. (...) Aufklärung geht mit Riesenschritten. (...) Menschenliebe und Freiheit im Denken gewinnen die Oberhand. Künste und Wissenschaften blühen, (...) nützliche Kenntnisse keimen. (...) Blickt nicht stolz auf uns herab, wenn ihr höher steht und weiter seht als wir; erkennt vielmehr, wie sehr wir (...) euren Standort emporgehoben und stützten. Tut für eure Nachkommen ein Gleiches und seid glücklich."

Meine Damen und Herren

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert fällt es uns heute spürbar schwerer, den Optimismus früherer Generationen zu teilen. Dabei könnten die Gedanken aus der Zeit der Aufklärung durchaus als Herausforderung gelten. Ist es nicht eine vordringliche Aufgabe der Schule, den jungen Menschen im Hinblick auf einen festen Standort, einen archimedischen Punkt, zu helfen und sie dabei zu stützen, so dass für uns Ältere an die Adresse der jungen Generation gesagt werden könnte: "Tut ein Gleiches und seid glücklich!" Umgekehrt würde sich die Jugend wohl einer Illusion hingeben, so weit sie glaubt, der Welt bereits durch ihr blosses Dasein ein Geschenk zu machen. Dass man sich ausweisen muss, ehe man fordert, ist heute selbstverständlicher als auch schon. Apropos Ausweis: Das Zeugnis, das Diplom, das Ihr heute erhält, werdet Ihr weder unterschätzen noch überschätzen. Die sieben Jahre Leben und Arbeit, die dahinterstecken, haben mit der Substanz Eurer Jugendzeit zu tun. In diesem Sinn gratuliere ich Euch zur Matura und zum Diplom und danke allen, die Euch auf diesem Weg begleitet haben, Euren Eltern, Euren Lehrerinnen, Lehrern und auch dem Kanton Luzern.

Wenn ich in die Runde blicke und Eure Lehrpersonen sehe, dann weiss ich, dass Ihr in diesen Jahren nicht nur Anfangsgründe im Bereich von Sprachen und Geschichte, von Kunst und Literatur, von Mathematik und Naturwissenschaften erhalten habt, sondern ein Stück weit eine geistige Prägung. Das Gymnasium bleibt, wie eh und je, auch heute und morgen der geistigen Welt verpflichtet. Wir haben uns abzugrenzen gegen Gleichgültigkeit und alle Formen von Beliebigkeit. Ich wünsche mir, das erreichte Zwischenziel, Eure Matura, Euer Diplom, habe beigetragen zur Einübung in disziplinierte Sachlichkeit. Sie bildet eine Voraussetzung zu weiter Sicht und wirklicher Weltoffenheit – und die brauchen wir heute dringender und zwingender denn je. Sofern Ihr von jedem Fach ein Stück Weltweisheit mitbekommen, so geht es stets um die Funktion der Vernunft, wie es der britische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead (1861 – 1947) verlangt. Diese Fähigkeit ist zu trainieren. Ob da einige nicht manchmal zu sehr im Schongang des geringsten Aufwandes gefahren sind? Wie auch immer: Eine einfache, aber in diesem Fall klare und wahre Richtlinie: "Die Funktion der Vernunft," so Whitehead in einer Studie, "besteht darin, dass sie die Kunst zu leben fördert." (In: Alfred North Whitehead, Die Funktion der Vernunft. Reclam, p. 3.) Die Gymnasialfächer sollen und wollen beitragen, diese Kunst zu stärken. Das gilt auch für die Wirtschaftswissenschaften, denen man nachsagt, es gehe hier hauptsächlich um Kurven, Tabellen und Statistiken.

Und so berufe ich mich heute abend auf Gedanken, die ein grosser Wirtschaftswissenschafter des 20. Jahrhunderts formuliert hat, Wilhelm Röpke, als Emigrant des Dritten Reiches geprägt von den wirtschaftlichen und politischen Krisen der dreissiger Jahre. Er war Berater der deutschen Bundesregierung und Professor in Genf. Als einer der ersten Wirtschaftswissenschafter stellte er die Sinnfrage. Zu den fundamentalen Rahmenbedingungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, das war seine Überzeugung, gehört auch die Orientierung über das, was "Jenseits von Angebot und Nachfrage" das Leben wie das Wirtschaften sinnvoll macht. Im gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1957 schreibt er:

"Angenommen, Technik, Wissenschaft (...) und Organisation vermöchten auf absehbare Zeit mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten, wenn sie es nicht sogar überflügeln. Angenommen, wir würden mit der Erschöpfung der bekannten Rohstoffquellen irgendwie fertig, und angenommen, es geschehe weiter nichts, als dass sich die Welt schrittweise in eine Art von Riesenstadt (...), dem heutigen Ruhrgebiet (...) ähnlich, verwandelt – was bedeutet das über die materielle Tatsache hinaus, dass (...) die Menschen ein komfortables Auskommen haben, satt werden und möglicherweise ein wachsendes Quantum an Grammophonplatten und Autoreifen verbrauchen? Was geschieht mit dem Menschen und seiner Seele? Gehört es nicht (...) zum Lebensstandard, dass die Menschen sich glücklich fühlen und auch nicht Mangel leiden an dem, was ein englischer Philosoph ‚the unbought graces of life‘, die unkäuflichen Dinge des Lebens genannt hat?" (Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage. Bern 1979, 5. Aufl., p. 78.)

Zu diesen unkäuflichen Dingen des Lebens gehören die Würde des Menschen, die Achtung voreinander, gehören Hoffnungen und Ziele und damit die Vision vom guten Leben, von Verantwortung und Menschlichkeit, dazu zählt das über den Tag und seine Zwecke Hinausweisende, zählen Natur und Freiheit.

Darum hat sich der liberale Wirtschaftsphilosoph eingehend mit der Bildung befasst. Es war die Zeit des Kalten Krieges und des Wettlaufs mit der Supermacht Sowjetunion. Die westliche Welt stand im Banne des Sputnik-Schocks. Röpke hielt es jedoch für eine Illusion, die Bildung ausschliesslich auf technische Bereiche zu konzentrieren. Im Gegenteil, eine sogenannte klassische Bildung schien ihm nicht nur für das weite Feld der Technik, auch für den Bereich der Wirtschaft sinnvoll und wertvoll. Eindringlich warnte er, wie er sich ausdrückte, vor der "Einebnung der geistigen Einkommensunterschiede", womit er gewiss nicht den Dünkel im Zusammenhang mit Titeln und Diplomen meinte. Als eine Gefahr für die offene Gesellschaft betrachtete er die "Verflachung (...) und banale Durchschnittlichkeit des Denkens, die wachsende Herrschaft der Halbbildung, die Zerstörung der Hierarchie der geistigen Leistung und Funktionen." (ebda, p.85.) In der Bildung, so betonte der Ökonom Röpke, dürfe man das Überdurchschnittliche nicht im Namen der Gleichheit und Mediokrität ersticken. Im Hinblick auf den Zusammenhang von Wirtschaft und Bildung stellt der Philosoph die These auf: "Überdurchschnittliche Befähigung ist die eigentliche Bedingung der Produktion und zugleich dünn gesät, so dass sie der sorgsamsten Pflege (...) bedarf."

Es ging Röpke um all die Faktoren jenseits von Angebot und Nachfrage, jenseits des Marktes und der Umsatzziffern. Ohne einen Konsens von Treu und Glauben kann eine Wirtschaft auf die Dauer nicht existieren, treiben wir auf eine Ordnung zu, der letzten Endes dann die Lebensqualität abgehen wird. Ohne sittliche Werte ist der Weg in den Wohlstand ein Weg ins Leere. Diese sittlichen Wertungen sind freilich mit überdurchschnittlichen Leistungen nicht schon identisch, haben jedoch sehr viel mit der Bereitschaft zu tun, auf seinem Niveau das Beste zu bringen, das Optimale anzubieten. Dabei ist das Vorbild nicht im Perfekten zu suchen, sondern in der Überwindung des Imperfekten. Von Sokrates erzählt man sich die Geschichte, ein Physiognomiker, sozusagen ein antiker Lavater, habe ihm einmal gesagt: "Ein Mann mit einem so hässlichen Gesicht wie du muss eine hässliche Seele haben." – "Du hast recht", soll Sokrates geantwortet haben, "und mit all der Schlechtigkeit versuche ich täglich fertig zu werden."

Sich täglich strebend zu bemühen ist gefragt. Sich auf das Zweitbeste zu beschränken wäre auf Dauer weder im Geistesleben noch in der Ökonomie zukunftsorientiert. Gewiss ist das Gymnasium nicht für die Wirtschaft da, um nach ihren Wünschen Kader heranzubilden. Gerade so etwas hat und hätte ein philosophischer Kopf wie Röpke nie gefordert. Im Sinne seines Bildungs- und Leistungsauftrages darf das Gymnasium auch in Zukunft kein Selbstbedienungsladen werden, auch kein Wellnes-Institut für müde Geister. Es soll, bei allen Rufen nach Praxisbezogenheit, jene Fähigkeiten und Fertigkeiten fördern, die über den Tag hinaus von Orientierungswert sind. Das will und verlangt eine Matura jenseits von Angebot und Nachfrage. Darum darf ich heute abend an den Willen zu Überdurchschnittlichem appellieren, und auch an die Hintergründe solcher Leistungen. Sie haben zu tun mit stetem Kontakt der Schulen mit dem wirklichen Leben, seinen Ausprägungen und Wirkkräften. Dazu gehört vor allem die Phantasie, im Zusammenhang mit Fragestellungen, mit Theorien und Möglichkeiten, auch solchen, die ganz anders sein könnten als die bisher praktizierten, und über all das hinaus mit einem kritischen Geist, der stets von Realitätssinn erfüllt sein muss. Der Weise, der wahre Intellektuelle, schrieb Thomas von Aquin in einem Kommentar zur Ethik von Aristoteles, kennzeichne sich dadurch, dass ihm die Dinge so schmecken, wie sie tatsächlich sind.

Diese Früchte des Lebens müssen, wie das Leben selber, längst nicht immer schal und unangenehm munden. Die Früchteschale, wie sie auf der Maturakarte gestaltet ist, macht einen schmackhaften Eindruck. In diesem Sinne schliesse ich mit dem Gedicht von Johann Gaudenz von Salis-Seewis:

Wie die volle Traube
Aus dem Rebenlaube
Purpurfarbig strahlt!
Am Geländer reifen
Pfirsiche mit Streifen,
Roth und weiss bemalt!

Noch aber ist nicht Herbst, und wer glaubt, es würden alle Früchte gleichzeitig mit den Erdbeeren reif, versteht nichts von den Weinbeeren, sagt ein altes Sprichwort. Ob aber Erdbeeren, Äpfel oder Trauben: Reif soll es sein, reif muss es werden, und hoffen wir alle, dass es auch geniessbar sei! Ich danke Ihnen.

 

Carl Bossard
Luzern, 24. Juni 1999