Ansprache von Hans Widmer, Philosophielehrer an der KSL,

anlässlich der Maturaschlussfeier des Realgymnasiums

 

Liebe Maturandinnen, liebe Maturanden,
meine Damen und Herren,

eigentlich hätte ich die Anrede ‚meine Damen und Herren‘ am liebsten vorerst gar nicht ausgesprochen.

Warum?

Nicht etwa, weil mir ein Minimum an Anstand fehlen würde, sondern ganz einfach deshalb, weil Sie, junge Frauen und Männer, weil Sie, frischgebackene Maturae und Maturi, - wie es jeweils in den vergangenen Zeiten des Neuhumanismus so schön geheissen hat- weil also Sie im Zentrum dieser Feier stehen.

Ist es nicht wunderbar, auch einmal den Platz der Mitte einzunehmen, sich hochleben, sich feiern zu lassen und allenthalben freudige Anerkennung zu spüren?

Wir alle, die wir hier im Saal versammelt sind: Eltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde, Lehrerinnen und Lehrer und nicht zuletzt die Vertretung der politischen Behörde, wir alle gratulieren Ihnen, liebe Maturandinnen, liebe Maturanden, zu Ihrem grossen Erfolg.

Ganze sieben Jahre – ob es letztlich fette oder magere Lebensjahre waren – wer vermag das zum jetzigen Zeitpunkt schon abzuschätzen ? – ganze sieben Jahre, haben Sie das Maturaziel nie vollends aus den Augen verloren.

Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass heute allenthalben das Loblied der kurzen Bildungshalbwertszeiten und der raschen Methoden- Stil,- Reform- und Berufswechsel angestimmt wird.

Sie haben sich durch diesen, auf die Länge doch leicht monoton wirkenden Technosong der Respektlosigkeit vor der Humanzeit und vor der Geschichte nicht beirren lassen – auch nicht durch die Tatsache, dass schon sehr bald das Maturaziel in 6 Jahren erreichbar sein wird.

Es ist anzunehmen, dass Ihr Ausharren auf dem langen und hin und wieder auch beschwerlichen Weg zur Matura nicht immer nur von Euphorie begleitet wurde. Manche Krise musste wohl bestanden werden und sicher galt es dabei, Gefühle der Niedergeschlagenheit, Sinnlosigkeitsempfindungen sowie Frustrationen auszuhalten und zu überwinden.

Ob Eltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde, Lehrerinnen und Lehrer,- die politischen Behörden möchte ich in diesem Zusammenhang wegen ihrer naturgemässen Distanz zum konkreten Schulalltag übergehen,- den Ernst der jeweiligen Krisenlage immer geahnt oder manchmal sogar erfasst haben, das wage ich zu bezweifeln.

Vielleicht waren Sie, liebe Maturae, liebe Maturi nicht immer ganz unschuldig an der angedeuteten Echolosigkeit in kritischen Lagen, weil sie – ganz den Coolness-Idealen unserer Gesellschaft folgend - sich geschickter Ueberspielungsstratiegen bedienten, ein Tun, das ja der Jugend mit ihrem unverbrauchten Gesicht nur allzu leicht von der Hand geht.

Vielleicht jedoch gehörten Sie nicht zu den Coolen und gingen diskret auf Sendung. Dann mag es Sie schmerzhaft berührt haben, wenn Ihre Botschaft entweder ins Leere verebbte oder auf uninteressierte Empfängerinnen und Empfänger stiess.

Tempi passati: heute jedenfalls stehen Sie da und dürfen stolz darauf sein, dass sie die verschiedensten Widerstände: innere und äussere, überwunden haben.

Woher wohl hatten Sie die Kraft zu Ihrem tapferen Ausharren?

Obwohl es auf diese Frage letztlich nur persönliche Antworten geben dürfte, kann auf mögliche Motivationsfelder allgemeiner Art dennoch hingewiesen werden.

War es der sanfte Druck der Eltern, der Verwandten, der sozialen Schicht, der Sie angehören oder der lenkende Einfluss engagierter Lehrpersonen; war es die Einsicht, dass Sie sich innerlich zum Studieren gleichsam berufen fühlen und von einer bestimmten Fachrichtung angezogen werden, oder war es die rein pragmatische Feststellung, dass das Maturazeugnis noch immer ein nicht zu unterschätzendes Sprungbrett für allerhand mehr oder weniger gwinnbringende und/oder prestigeträchtige Karrieren darstellt?

Die meisten von Ihnen, liebe Maturandinnen, liebe Maturanden haben wahrscheinlich von den verschiedensten Motivationsfeldern profitiert und verdanken so ihre Durchhaltekraft einem wahrhaft reichhaltigen Cocktail.

Wieviele kritische Situationen Sie auch immer zu bewältigen hatten und woher auch immer Sie die dazu nötige Stärkung bezogen haben: Tatsache ist, Sie haben es geschafft, Sie freuen sich und wir freuen uns mit Ihnen.

In wenigen Tagen oder Wochen, wenn dann die Feste mit Kolleginnen und Kollegen, mit Freundinnen und Freunden verrauscht sind – auch Dionysos legt sich mal zur Ruhe- und die Tage der wohlverdienten Erhohlung bereits wieder der Vergangenheit angehören, werden Sie die nüchterne Feststellung machen, dass es weitergeht und dass die Matura lediglich einen Zwischenhalt darstellte, einen markanten zwar, einen Zwischenhalt auf dem unabsehbaren Lebenspfad, der, ob Sie das wollen oder nicht, in die nächste Kurve einläuft und- was absehbar ist- in die Landschaft der beruflichen Ausbildung einmündet.

Dort erwarten Sie neue Freuden und Leiden, neue Erfolgserlebnisse und Frustrationen. Sie werden in den Genuss von mehr Freiheit und Selbstverantwortung kommen, gleichzeitig aber wird der schützende Rahmen der Institution Gymnasium mit seinem strukturierenden Klassen- Fächer- und Zeitkorsett wegfallen.

Für die meisten von Ihnen ist das Wort ‚Konkurrenzkampf‘ bisher ein Fremdwort geblieben und auch den Ausdruck ‚Existenzkampf‘ kennen Sie in der Regel nur vom Hörensagen.

Das ist auch gut so, denn noch verbleibt Ihnen mehr als genug Zeit, die beiden konkret kennen zu lernen.

Haben Sie für die harten Seiten des Lebens, wie sie durch die garstigen Ausdrücke ‚Konkurrenz- und Existenzkampf‘ sprachlich abgebildet werden, haben Sie dafür in den vergangenen sieben Jahren auch tatsächlich etwas gelernt?

War für viele die Gymnasialzeit nicht bloss so etwas wie eine nicht abgeschlossene Orientierungsstufe, eine Art unverbindliches Sich Aufwärmen für einen Wettlauf?

Für einen Wettlauf allerdings, mit dessen genauer Organisation sich etliche noch kaum ernsthaft befasst haben, weshalb es denn immer auch wieder vorkommt, dass es junge Menschen gibt, die selbst nach erfolgreich abgeschlossener Matura noch immer nicht wissen, welchen Weg sie einschlagen wollen.

Das Gymnasium als Uebungsspielplatz für Zehnkämpferinnen und Zehnkämpfer mit dem Ziel, eine nachhaltige Grundkondition aufzubauen, das Gymnasium also als Uebungsspielplatz und nicht als Kasernenhof für eine spezialisierte Waffengattung kann im Einzelfall tatsächlich die für den harten Lebenskampf eher negativen Haltungen von Unverbindlichkeit und Unentschiedenheit fördern.

Aufs Ganze gesehen aber ist diese Gefahr vernachlässigbar. Im Gegenteil- und daran glaube ich bei aller Einzelritik dieser altehrwürdigen Schulinstitution- im Gegenteil also vermag das Gymnasium in den allermeisten Fällen die Gefahr der Unverbindlichkeit und der Unentschiedenheit zu bannen.

Die Unverbindlichkeit wird nämlich bei den meisten Absolventinnen und Absolventen abgelöst von einer offenen Haltung für die Vielfalt von Möglichkeiten und der Unentschiedenheit folgt sehr oft die Disposition zu einem vorsichtigen und reflektierten Handeln.

Wichtiges, liebe Maturae und Maturi, haben Sie also in den vergangenen sieben Jahren gelernt: Ausharren, auch wenn es oft sinnlos scheinen mochte, Offenheit für viele Möglichkeiten und als Folge davon Vorsicht beim Entscheiden in Bezug auf Glauben und Tun.

Im harten Konkurrenz- und Existenzkampf, der auf Sie wartet, können Sie solche und ähnliche Eigenschaften sehr wohl gebrauchen.

Vor allzu kurzfristigem Denken, vor naivem Glauben und Tun werden Sie vielleicht eher bewahrt als wenn Sie immer nur Praktisches und sogenannt Sinnvolles und in jeder Hinsicht Effizientes gemacht hätten.

Vielleicht sind Sie auch für eine gewisse Toleranz befähigt worden, entweder, weil Sie sich mit Geschichte zu befassen hatten oder weil Sie sich mit keineswegs perfekten Lehrpersonen herumzuschlagen mussten, mit Lehrpersonen, die sich vielleicht mit der ‚neuen‘ Lernkultur und ihren Möglichkeiten des themen- und problemorientierten, des lernzielbestimmten und fächerverbindenden, des individualisierten, selbstgesteuerten und-kontrollierten Lernens, des kreativ ganzheitlichen Erfahrungslernens und des partizipativen Voneinander- und Miteinander-Lernens noch nicht bis zu Vollendung vertraut gemacht haben.

Langfristiges Denken, welches die Bedeutung des Augenblickes zu relativieren vermag, weil es einen Sinn für geschichtliche Zusammenhänge hat, ein Glauben und Tun, welches deswegen nicht naiv ist, weil es zuerst gewisse Stolpersteine mehr oder weniger berechtigter Zweifel behutsam auf die Seite räumen musste, all dies, das langfristige Denken also und ein reflektiertes Tun und Handeln kann dem Leben mit seinen dramatischen Aspekten des Existenz- und Konkurrenz-kampfes eine gute Qualität verleihen.

Selbstvertändlich will ich nicht behaupten, das blosse Durchlaufen des Gymnasiums garantiere auch schon solche Haltungen und Eigenschaften. Aber die Grundarchitektur dieses für ein umfassendes Zehnkampftraining ausgedachten Uebungsspielplatzes kann die angedeuteten Qualitäten durchaus nachhaltig fördern. Dies aber nur unter folgenden Bedingungen: die Trainingsübungen sollten dem Geist spielerischer Freiheit verpflichtet bleiben, was jedoch auf keinen Fall als Widerspruch zu kraftvoller und ausdauernder Anstrengung verstanden werden darf.

Worauf es ankommt: Abwechslung und breite Fächerung der Uebungen, denn nur so kann die Lust auf lebenslanges allgemein-bildendes Lernen geweckt und gefördert werden.

Der Uebungsplatz Gymnasium würde dann nicht nur sein Gesicht, sondern schlussendlich auch seine Existenzberechtigung verlieren, wenn sich bei den diversen immer wieder stattfindenden Reformen die abgezweckten und zum Teil geschickt getarnten Interessen des homo oeconomicus über die der Freiheit und dem Allgemeinmenschlichen verplichteten Interessen des spielenden Menschen, des sogenannten homo ludens stellen würden.

Liebe Maturae, liebe Maturi, sicher haben Sie bis zum heutigen Erhalt des Maturitätszeugnisses viel Durchhaltewillen gebraucht, denn sieben Jahre mit Hilfe der verschiedensten Disziplinen Konditionstraining zu betreiben, das ist weiss Gott kein Sonntags-spaziergang.

Ganz gleich, welcher konkreten Disziplin Sie sich in den folgenden Jahren zuwenden werden, Sie dürfen dies mit einem grossen Selbstvertrauen tun, weil Sie wissen, dass Sie über eine gute Grundkondition verfügen, die Sie allerdings immer wieder erneuern sollten, eine Kondition, die hoffentlich Ausdauer, langristiges Denken und vorsichtig reflektiertes Glauben und Handeln zu ihren Qualitätsmerkmalen zählen darf.

Mit solchen Merkmalen wird der immer wieder so harte Konkurrenz- und Existenzkampf – weil von spielerischen Elementen und von der Bereitschaft zu Toleranz durchsetzt – vielleicht etwas humaner werden.

Zum Schluss: Freuen wir uns alle, dass es wieder ein Jahrgang geschafft hat, in den Besitz des begehrten Maturazeugnisses zu gelangen. Freuen wir uns auch darüber, dass es in unserer durch und durch verzweckten Welt diese Uebungsplätze für den allgemein sich bildenden homo ludens überhaupt noch gibt.

Lassen wir sie hochleben, die Maturae, die Maturi, deren Eltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde und nicht minder von Herzen, deren Lehrerinnen und Lehrer sowie die Vertretung der politischen Behörden.

 

Hans Widmer
Luzern, 22. Juni 1999