Ansprache von Rektor Hans Hirschi

anlässlich der Maturaschlussfeier des Literargymnasiums

Liebe Maturae, liebe Maturi

Nun ist er also da, der Tag, an dem Sie die Kantonsschule mit dem Maturazeugnis in der Tasche verlassen können, der Tag, den alle lang ersehnt haben, ausser jenen, die vielleicht doch noch lieber geblieben wären, sei es wegen der lieben Lehrer oder wegen anderer Lieben. Für Sie fängt ein neuer Lebensabschnitt an, der vorbereitet sein wollte. Damit meine ich nicht nur die Vorbereitung auf die Maturaprüfungen, sondern auch die Wahl eines Studiums. Nach der breiten Fächerpalette am Gymnasium haben Sie sich nun einzuschränken auf eines oder zwei Studienfächer. Das ist keine geringe Herausforderung. Jedenfalls hab ich es so empfunden, als ich in dieser Situation stand, und ich nehme an, es wird Ihnen nicht anders ergehen.

Mit dem Herzen wählen

Am 12. Mai dieses Jahres war in der Neuen Zürcher Zeitung ein Artikel zu lesen über die Studienwahl von Maturandinnen und Maturanden in Rezessionszeiten. Darin wird berichtet, dass sich Maturandinnen und Maturanden bei der Wahl ihres Studiums erstaunlicherweise nicht von der Lage am Arbeitsmarkt beeinflussen lassen, sondern nach wie vor in erster Linie "mit dem Herzen" wählen. Das Resultat hat mich gefreut. Der Autor interpretiert dieses Wahlverhalten zwar als lustbestimmt. Aber ich bin nicht sicher, dass er Recht hat. Denn aus den Interviewausschnitten mit Zürcher Maturandinnen und Maturanden spricht eine andere Sprache.

Die jungen Zürcherinnen und Zürcher reden nicht von Lustprinzip, sondern, davon, dass im Zentrum ihres Entscheids für eine bestimmte Studienrichtung "das Interesse" am Fach stehe und dass auf jeden Fall klar sei, dass nicht das Geld allein die Berufswahl bestimmen soll. Das Herz als imaginäres Zentrum des Menschen, das Inter-esse, das Mittendrinsein ist also ausschlaggebend. Offensichtlich tangiert die Studienwahl die Mitte der Persönlichkeit dieser Maturandinnen und Maturanden. Der Beruf wird nicht nur einfach als Brotjob verstanden. Diese Maturandinnen und Maturanden erheben den Anspruch, dass ihr Fach zu ihrer Persönlichkeit passen und ihrer Entfaltung dienen soll. So jedenfalls kann man extrapolieren.

Die Einladung zu dieser Maturafeier ziert eine Malerei von Lea Stocker. Sie zeigt eine Lichtquelle, es mag die Sonne sein, die ins Dunkel strahlt. Die Malerei stellt nicht nur den Kontrast zwischen Helligkeit und Dunkel dar, sondern, wie ich meine, auch die Dynamik, die das Licht auslöst. Einerseits übt das in den Tunnel strahlende Licht eine Sogwirkung aus. Es zieht den im Dunkeln weilenden Betrachter an. Es ensteht eine Bewegung, die zum Licht hin strebt. Andererseits kann man aus dem Bild auch eine Bewegung in umgekehrter Richtung herauslesen, eine Bewegung von der Lichtquelle zum Betrachter hin. Dieser erfährt eine Kraft, die ihm zuströmt, ohne dass er sich ihrer Quelle zu nähern braucht.

Vielleicht ist es nicht ganz abwegig, die Wirkung des Lichts auf den Betrachter mit Ihrem Verhältnis zum gewählten Studienfach zu vergleichen. Wenn auch Sie, liebe Maturae und Maturi Ihr Studienfach mit dem Herzen wählen, werden Sie sicher seine anziehende Wirkung erfahren. Sie werden alles daransetzen, das Licht, das jetzt noch von ferne leuchtet, zu erreichen. Wie aber steht es mit der Erfahrung der Kraft, die da vom Licht ausgehen soll? Hört hier die angezielte Analogie auf? Bleibt das Studienziel nur Endpunkt eines Weges, den zu gehen Sie alle Energien selber bereitstellen müssen? Gibt es nichts als das gnadenlose Leistungsprinzip? Ich glaube, in Studium und Beruf kann man auch die umgekehrte Bewegung erfahren. Das Objekt des Studiums kann sich selber als Kraftquelle erweisen. Und das nicht nur im Sinne der Verlockung, sondern auch im Sinne der Gabe. Um dies zu zeigen muss ich allerdings einen Umweg über die antike Philosophie machen.

Platons Sonnengleichnis

Liebe Maturae und Maturi, bestimmt haben Sie meine Assoziationen schon eingeholt. Als Philosoph kann man nicht von Licht und Sonne sprechen, ohne an Platon, das Sonnengleichnis und das Höhlengleichnis aus dem 6. Buch der Politeia zu denken. Sie erinnern sich: Platon vergleicht die oberste Idee, die Idee des Guten, mit der Sonne. Sie bewirkt nicht nur die Erkenntnis alles dessen, was ist, sondern sie ist Ursache alles Seienden. "Du wirst, denke ich, sagen, die Sonne verleihe dem, was gesehen wird, nicht nur das Vermögen gesehen zu werden, sondern auch Werden und Wachstum und Nahrung, ohne doch selbst ein Werden zu sein. (Pol. 509b)

Das Gute also ist es, was letztlich allem das Sein gibt. Es ist die Quelle von allem, was ist. Das Gute anzustreben, ist für Platon das Ziel aller Wissbegierde. Aber eben nicht bloss im Sinne eines gnadenlosen Strebertums, sondern im Wissen darum, dass auch der Weg zur Erkenntnis noch einmal unterfangen ist durch dieses Werden, Wachstum und Nahrung spendende Gute.

Vielleicht erscheint uns heute Platons Bildungsverständnis zu elitär, wenn er die höchste Bildung in der Philosophie sieht. Vielleicht finden wir als Liberale seine Vorstellung von einem guten Leben totalitär. Ich glaube aber, es würde eine menschliche Verarmung bedeuten, wenn wir nicht mehr nach einem umfassenden Guten streben würden, das alles relativ Gute übersteigt und wenn wir nicht mehr glauben könnten, dass uns dieses absolut Gute die Kraft gibt für die vielen kleinen Schritte zu ihm hin.

Den Blick für das Ganze nicht verlieren

Ich möchte Sie nun nicht alle zum Philosophiestudium verleiten. Auch wenn Sie Ihr Studium mit dem Herzen wählen, mag ein verstohlener Blick auf den Arbeitsmarkt nicht unerlaubt sein. Aber ich möchte Sie ermutigen, das Fach, das immer Sie studieren werden, auf philosophische Art zu studieren, das will heissen: den Blick für das Ganze nicht verlieren. Geben Sie der naheliegenden Versuchung nicht nach, die Wirklichkeit in von einander unabhängige Sektoren aufzusplitten, die ihren eigenen Gesetzen folgen, z.B. ins Berufsleben, wo es nur ums Geldverdienen geht, in die Freizeit, wo es nur ums Vergnügen geht, die Politik, wo es nur um Macht geht. Bewahren Sie die platonische Intuition, dass etwas nur dann gut ist, wenn es zusammen mit allem andern Guten ein Ganzes bildet.

Den Blick für das Ganze verlieren Sie dann nicht, wenn Sie Jurisprudenz nicht nur als Ausbildung dafür verstehen, Ihre Interessen oder diejenigen Ihrer Klienten effizient durchzusetzen, sondern auch als Besinnung auf die Fundamente der Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für Individuum und Gesellschaft, wenn Sie Medizin nicht nur als Reparaturtechnik für defekte Körperteile begreifen, sondern als Wissenschaft, welche die Gesundheit des ganzen Menschen im Auge hat, wenn Sie Sprachen nicht nur als Kommunikationstechnik studieren, sondern sie auch als Schatz von Einsichten ins Menschsein kennenlernen. Und ich bin überzeugt, dann werden Sie jenen Kraftstrom erfahren der von diesen Disziplinen ausgeht wie von der Sonne, die auch das Werden und Wachstum und Nahrung ist.

 

Hans Hirschi
Luzern, 23. Juni 1999