Maturarede an der Maturafeier des Kurzzeitgymnasiums

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Matura – das ist vor allem (k)ein Ausweis
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Ansprache an der Maturafeier der Abteilung K vom 21. Juni 2006

Liebe Gäste
Liebe Maturae, liebe Maturi

Wir sind hier zusammengekommen um Ihren Erfolg zu feiern. Sie haben die Matura bestanden – ganz herzliche Gratulation, verbunden mit einem kurzen Mitfühlen mit denjenigen, denen dieser Erfolg nicht beschieden ist.

Dennoch haben Sie mich schwer enttäuscht! Matura - das ist vor allem (k)ein Ausweis – so hiess eines der Deutschaufsatzthemen, die Ihnen vor kurzem zur Wahl in Halle 5 vorgelegen haben. Leider haben nur wenige dieses Thema gewählt, so dass ich nun keine pfannenfertige Maturarede abkupfern kann, sondern mich selbst an die Arbeit machen musste. Hier nun das Resultat meiner Bemühungen zu Ihrer aller Begutachtung.

Sie haben die Matura bestanden – ich freue mich ihre Leistung nochmals hervorheben zu dürfen, auch wenn das Dokument, denken Sie an das Prüfungsthema, vielleicht noch gar kein Ausweis ist; weniger erfreulich ist allerdings die Erkenntnis, dass viele von Ihnen, Maturae und Maturi, nicht einmal, wie ich auf Nachfrage erkennen musste, wissen, was das Wort „Matura“ denn überhaupt bedeutet. Lassen Sie es mich übersetzen: Matura heisst „Reife“ und sagt aus, dass Sie eine Schule auf einem bereits hohen Niveau abgeschlossen haben und sich beruflich weiter orientieren dürfen. Erleichtert lassen Sie nun dieses Gebäude am See hinter sich und fühlen sich befreit von der täglichen Fron und Ihren gnadenlosen Antreibern, den Lehrern und Lehrerinnen.

Wissen Sie aber wirklich, was Sie an der Schule gehabt haben? Ich bezweifle es, denn Sie haben vermutlich nie über die Herkunft des Begriffes Schule nachgedacht, was auf Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch school, école, scuola, escuela heisst. Von meinen Schülerinnen und Schülern habe ich erfahren, was Schule auf Russisch heisst: Schola. Auf Rumänisch heisst sie – phonetisch umschrieben - Schkualä und auf Kroatisch Schkola.

Der so deutlich hörbare gemeinsame Wortstamm geht zurück auf das griechische Wort „scholä“, was – und ich hoffe, einige von Ihnen verblüffen zu können – übersetzt soviel heisst wie freie Zeit, Rast, Ruhe und Musse. Ich höre Sie gedanklich laut protestieren, sie hätten aber davon in den vergangenen vier, bei einigen vielleicht auch fünf Jahren, nicht viel bemerkt, die Schule sei gerade das Gegenteil, nämlich der absolut mussefeindlichste Ort, den Sie kennen, denn dort, wo der Stress regiert, hat die Musse kein Zuhause. Doch ist die freie Zeit, die Musse – verwechseln Sie es im Folgenden bitte nicht mit Muse – durchaus noch in der Schule anzutreffen, was Sie vielleicht nicht bemerken wollten oder konnten.

Auf der Liste Ihrer Lebenswerte steht, wie wir Lehrer immer wieder feststellen und erfahren, die Freizeit an erster Stelle, wird die Schule nur als höchst lästige Unterbrechung derselben empfunden, obwohl Sie Ihnen doch gerade in ihrem Namen dieses erstrebenswerte Gut der Freizeit verspricht. Ist die Schule also eine Mogelpackung, deren Inhalt nicht hält, was das Etikett verspricht?

Blicken wir zurück in die Geschichte, gelangen wir wie so oft in die griechische Antike. Dort bedeutete „scholä“ die freie Zeit, die Musse, die den von schwerer körperlicher Arbeit befreiten jungen Männern Athens – die Frauen nahmen nicht am öffentlichen Leben teil – die Möglichkeit bot, unter schattigen Bäumen in Hainen, genannt ‚akademoi’, den Akademien, zu lustwandeln und in angeregtem Gespräch über philosophische Fragen zu diskutieren. Dabei lernte nun jeder das eine oder andere Nützliche und übte die Weitergabe der Erkenntnisse in Form von Reden, denen andere aufmerksam zuhörten, was die Geburt der Schule und der Akademien war. Geistige Arbeit anstelle der körperlichen war zu leisten, die aber nicht als solche gefühlt und gewertet, sondern als freie Zeit empfunden wurde.

Ein kühner Zeitsprung bringt uns wieder in die Gegenwart und zur Frage, ob die „scholä“, die Musse, heute noch an ihrer ursprünglichen Heimat, der Schule, anzutreffen sei oder ob sie nicht als Opfer der allgemeinen Beschleunigung aus ihr vertrieben worden ist? „Die Zeit vertreiben, welch seltsames Wort. Sie zu halten, das wäre das Problem“, so äussert sich Rainer Maria Rilke zur Zeit und ihrer Flüchtigkeit – auch das war übrigens ein Thema des Maturaaufsatzes am Realgymnasium. Die Zeit zu halten, sie zu zerdehnen, um so Rast und Ruhe zu schaffen, sie zum langen Verweilen zu zwingen oder eben langweilig zu sein, das ist die wahre Aufgabe der Schule und, fragt man die Schülerinnen und Schüler, die Todsünde der Lehrer und daher tunlichst von ihnen zu vermeiden. Doch ist gerade diese Langeweile der Schule ureigenste Aufgabe. Die Schule kann, nein, muss in unserer Zeit, in der, wo immer es geht, noch ein Biturbo zur besseren Beschleunigung gezündet wird, ein Ort der gezielten Entschleunigung sein, ein Ort zur Entdeckung der Langsamkeit, ein Ort, in dem nicht ein neuer Reiz den vorherigen, noch nicht verarbeiteten ablöst, ein Ort, an dem Gedanken geboren, entwickelt und vielleicht sogar zu Grabe getragen werden.

„Alles hat seine Stunde. (…) eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen“, wie es im Buch Kohelet im Alten Testament heisst, nur müssen wir uns diese Zeit auch nehmen. „Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt, läuft die Zeit; wir laufen mit“, so formuliert es Wilhelm Busch. Wir können den Sauseschritt der Zeit zwar nicht anhalten, wir können aber kleine Zeitinseln schaffen, in denen wir zur Ruhe kommen und zumindest die Illusion eines Zeitstillstandes haben, wenn wir einen solchen Moment der Ruhe und Ausgewogenheit erleben, wie ihn Eduard Mörike der personifizierten Nacht in seinem Gedicht „Um Mitternacht“ gönnt: „Ihr (der Nacht) Auge sieht die Waage nun der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn“. Es ist der gleiche kleine magische Moment, in dem der rote Sekundenzeiger der Schweizer Bahnhofsuhr eine Nanosekunde innehält um dem schwarzen Minutenzeiger auf den Sprung zu verhelfen, so, als verharrte die Welt und stünde einen Herzschlag lang still. Innehalten und warten, das ist „scholä“, das ist Musse, das ist Schule und sollte daher Schule machen.

Sie sind jetzt maturae und maturi, d.h. Sie haben eine Reife erlangt, haben einen Prozess erfolgreich abgeschlossen, sind aber noch nicht reif für den Rest Ihres Lebens. Denken Sie wieder an das Maturathema und dessen zweifache und zu erörternde Aussage: Matura, das ist vor allem kein Ausweis, denn die erste Etappe Ihres Bildungsweges endet hier zwar, doch werden Sie ihn sicher noch weitergehen. Ab jetzt sind Sie für die weitere Wahl Ihres Lebensweges selbst verantwortlich, müssen selbst entscheiden, welche Hoch-, Fach- oder sonstige Schule sie wählen.

Sie sehen, Sie werden die Schule nicht los, und ich hoffe, Sie denken jetzt, wo Sie wissen, was sich hinter dem Begriff „scholä“ verbirgt, das sei auch gut so. In Zukunft können Sie nicht mehr Ihren Lehrern und Lehrerinnen die meistgestellte Schülerfrage „Was bringt`s?“ stellen. Niemand und nichts bringt Ihnen etwas, Sie müssen es sich selber holen. Sie müssen sich jetzt auch selbst die Zeit nehmen um an Ihrer Bildung zu arbeiten, die Schule garantiert Ihnen keine Musse mehr.

Dass Sie aber selbstverantwortlich Ihren Platz in der Berufswelt und Gesellschaft finden können, dafür bürgt Ihre bisher geleistete Arbeit und die Ihrer Lehrer: Sie haben mit Musse und Zeit in der Schule Werte diskutiert, die unsere Gesellschaft tragen und der Schweiz seit Jahrhunderten gut tun. Sie hatten in der Schule die „scholä“, diese Werte zu überprüfen und mit denen der Schüler und Schülerinnen aus anderen Kulturen zu vergleichen.

Aus diesem Vergleich entsteht dialektisch – ich muss natürlich noch den alten Krauskopf Karl Marx erwähnen – aus einer These und einer Antithese eine neue Synthese, eine Synthese, die zu einer dynamischen, agilen und flexiblen Schweiz führen wird. In meiner jetzt ehemalig zu nennenden Deutschklasse, der 6Kb, waren viele Secondos, d.h. die zweite Generation der Migranten aus den Balkanstaaten hat wohl nicht nur in dieser Klasse das Maturaalter erreicht.

Ihnen und den schon länger hier Ansässigen hat nun die Schule wie in der griechischen Antike den Raum und die Zeit geboten, im Diskurs eine Synthese der Kulturen zu schaffen, die eben nicht ein von den üblichen Gutmenschen kritiklos propagiertes Multikultiwischiwaschi ist, sondern fundierte und lebbare Werte gebiert, die von den Absolventen dieser Schule als Multiplikatoren in unsere Gesellschaft getragen werden, um deren Zukunft mir deshalb nicht bange ist.

Abite maturi maturaeque, Sie haben die Matura, das Abitur, bestanden, gehen Sie nun hinaus, seien Sie sich der Tatsache bewusst, dass die Matura, was Reife und berufliches Fortkommen anbelangt, vor allem noch kein Ausweis ist, denken Sie daran, dass vor Ihnen ein vielleicht noch langer Prozess zur Bildung liegt, der viel Zeit braucht. Nehmen Sie sich diese Zeit, halten Sie die Zeit, lernen Sie die Langeweile lieben – verlassen Sie diese Schule, gönnen Sie sich aber lebenslang die „scholä“.

lic. phil. Theda Marx, Lehrerin für Deutsch

aktualisiert am 29.07.2006, brief.gif (134 Byte) webmaster