Maturarede an der Maturafeier des Wirtschaftsgymnasiums

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Gesellschaftlicher Status und echte menschliche Bedürfnisse
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Ansprache an der Maturafeier des Wirtschaftsgymnasiums
vom 25. Juni 2004

Sehr geehrte Damen und Herren der Behörden

Liebe Eltern und Kolleginnen und Kollegen

und ganz speziell nicht zuletzt:

Liebe Maturandinnen und Maturanden

Einige letzte Gedanken auf den Weg geben zu dürfen ist eine sehr vornehme Aufgabe, die ich als Klassenlehrer der Klasse 6Wa und als Fachlehrer für Wirtschaft und Recht sehr gerne wahrnehme, bevor Ihr diesen Lernraum und, wie ich immer wieder feststellen darf, auch Lebensraum Kantonsschule Luzern am Alpenquai verlässt.

Einerseits geht Ihr ja gerne – logisch, nach meistens sechs Jahren büffeln, auswendig lernen und dem ständigen Versuch, Zusammenhänge zu erkennen, die viele nie haben erkennen können. Anderseits haben Euch diese Jahre in einer Gruppe gleichaltriger Leute fest verankert und der Abschied wird nicht immer einfach sein, wenn ich an die vielen gemeinsamen Veranstaltungen wie Theater, Konzerte, Feste, gemeinsames Lernen und „Chillen“ am wunderschönen See denke.

Damit äussere ich einen ersten Wunsch: Kommt doch einfach wieder einmal hierher zurück, besucht eine Theater-, eine Musicalaufführung oder geht bei einer Lehrerin, einem Lehrer vorbei und erzählt von Eurem Erfolg und wie froh Ihr seid, dass die damals gehasste Strenge, aber auch der Versuch Euch zu einem differenzierten Denken zu bewegen nicht ganz nutzlos gewesen ist. Die hier Gebliebenen werden Euch für diese Rückmeldungen dankbar sein.

Wissen und Verstehen

Ihr habt hier sicher viel gelernt. Verschiedene Kollegen werden Euch fast pathetisch erklärt haben, dass Ihr jetzt so viel wisst wie noch nie. Ihr kennt die 4 P des Marketing-Konzepts, die Methode der Boston Consulting Group mit Stars, Cash Cows und Poor Dogs , also den ganzen Zoologischen Garten der Marktstrategie und des Kampfs um Marktanteile und Ansehen, ihr könnt Diversifikation von Distribution und sogar Dispersion unterscheiden. Ihr wisst, wie man mit der Gentechnologie Menschen klonen kann, Ihr wisst alle Elemente des Periodensystems auswendig, Ihr wisst, wie man in mindestens zwei Fremdsprachen hunderte von Verben blind und schnell konjugiert. Ihr wisst, wie man stille Reserven bildet und geschönte Bilanzen erkennt und wie man mit -zig Kennzahlen eine Unternehmung analysiert. Ihr wisst jetzt fast alles - nein: Ihr wisst jetzt alles besser!

Aber habt Ihr auch verstanden, was Ihr wisst? Habt Ihr die Gefahren der neuen Technologien hinterfragt, seid Ihr von Euren Lehrern und Lehrerinnen gezwungen worden, einmal darüber nachzudenken, was man mit Wissen alles aufbauen, aber auch zerstören kann? Könnt Ihr Euch in den gelernten Fremdsprachen wenigstens völkerverbindend verständigen und habt Ihr verstanden, was in einer Unternehmung und hinter ihren Zahlen wirklich steckt?

Habt Ihr zum Beispiel auch verstanden, warum Manager, die aus lauter Angst gesellschaftlichen Status und Macht zu verlieren, Unternehmungen aushöhlen und abzocken, um schon bald wieder alt auszusehen und einsam zu sterben wie die Raser? Abzockende Manager und Raser? Sind da nicht ähnliche psychologische Phänomene erkennbar?

Status und Moral

Ist es nicht der unwiderstehliche Drang, vermeintlich Reichster, Begehrtester, Einflussreichster, auch Schnellster zu sein und alles zu tun um diesen Rang erreichen oder dann verteidigen zu können? Egoistischer Krieg um das Ranking, ohne die moralischen und ethischen Regeln einzuhalten, ist angesagt – weltweit wie in der Klasse oder im Quartier. Die heute monopolare Welt mit einer keinen Widerspruch duldenden unmoralischen Vormachtstellung einiger älterer Herren und deren Systeme in den USA ist ebenso verwerflich wie der psychologische Krieg in einem Schulzimmer, weil ein Kollege nicht das richtige Handy hat oder das Geld für die Markenkleider nicht aufbringen kann oder will! Die im neureichen Einfamilienhausquartier durchgeführte Geburtstagsparty für die zweijährige Tochter mit Modeschau wird wohl auch nicht für das Wohl des Kindes gedacht worden sein. Warum verkaufen sich heute immer noch und immer mehr geländegängige Fahrzeuge, wenn die Strassenbauer uns gar keine Steine in den Weg legen? Geht es nach dem Effekt des demonstrativen Konsums (dem so genannten "Veblen-Effekt") nicht einzig und alleine darum, dass Mami mit dem 25 Liter saufenden Geländewagen unter feinem Säuseln der Klimaanlage und mit dem unnötigen Allradantrieb, ihren Status zur Schau stellend, ihre Kinder an die Geburtstagsfeier fahren kann?

Der Philosoph Alain de Botton meint in einem Interview zu seinem Buch „Status-Angst“ u.a. "Beunruhigend sind die Statuskämpfe immer für jemanden. Sie werden aber für umso mehr Leute zu einem Problem, je rigider das Stautssystem ist und nach je weniger Kriterien der Status verliehen wird". Und ich stelle fest, dass in unserer Gesellschaft Status eigentlich nur noch auf einem Kriterium beruht, auf dem wirtschaftlichen Erfolg. Achtet man auf die Botschaft, die einem durch die Medien vermittelt wird, dann wird klar, dass es in unserer Gesellschaft eigentlich nur noch darum geht, Karriere zu machen, und dass der Erfolg dieser Karriere danach bemessen wird, wie viel Geld wir verdienen. Die Hack-Ordnung im Beruf, nach Aussehen oder Besitz entsprechender Gegenstände ist alles. Die Frage lautet im Grunde ganz simpel: Wie sehr kümmere ich mich darum, was andere Leute über mich denken?“

Wohin müsste ich beim Verlassen des Schulzimmers oder des Büros nur meine Hände halten, wenn ich nicht auf dem Handy zwanghaft herumdrücken müsste, um festzustellen, ob ich wichtig genug bin, dass mir jemand ein SMS oder ein MMS gesendet hat? Mindestens nach der Behandlung des sozialen Konzeptes vor der Matura mit aktuellen Themen wie Sozialplan und Massenentlassung und den Zeitungsberichten der letzten Woche über die starke Zunahme der Konkurse und damit gescheiterten Existenzen sollte uns klar sein, dass wir nicht immer, aber immer öfter wieder einmal ehrlich nach dem Befinden der andern fragen sollten. Wir Wirtschaftslehrpersonen des Kantons Luzern hatten vor einer Woche die Gelegenheit, vom neuen Calida-Management zu hören, wie man den Turnaround nach einer schlimmen Phase des Einbruchs geschafft hat. Eine Massnahme unter vielen sei gewesen den Leuten zu verbieten, über den Korridor hinweg ins nächste Büro zu mailen und zu verlangen, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder vermehrt in die Augen schauen. Innert einem Monat habe sich das Betriebsklima entscheidend verbessert, habe sich wieder eine Corporate Identity entwickelt. Auch sei viel unnötiges Papier abgeschafft worden. Hören mich jetzt wohl Leute aus der Verwaltung?

Daraus entsteht der zweite Wunsch an Euch: Ich wünsche Euch den Mut, andere Leute besser verstehen zu lernen, indem ihr nicht zuerst an Euch und Euer Ansehen denkt, sondern vermeintlich schwächeren Leuten zuhört, versucht, ihre Probleme ganzheitlich zu verstehen um (meistens) von ihnen viel, sehr viel lernen zu können. Arbeitet, wenn immer ihr könnt, während des Studiums in einem Betrieb. Ihr werdet Leute mit ganz andern, nicht weniger wichtigen Fähigkeiten kennen lernen. Damit könnt Ihr die praxisfremde Überheblichkeit gewisser Universitätsabsolventen vermeiden, die mit dem Köfferchen in der Hand und der NZZ unter dem Arm, keinen Widerspruch duldend, wissen, wie man es macht.

Spezialisiertes Wissen und ganzheitliches Handeln

Wir haben uns nämlich gewöhnt in Modellen rein theoretisch zu denken, haben dabei vergessen, was real und was Spiel ist. Wir tun so, als ob unsere Aktivität keine weiteren Auswirkungen hätte. Wir brauchen nur noch Wissen und Geld – notwendige Sozialkompetenz oder eine gute Moral mit Sicht auf das Ganze ist nicht mehr gefragt.

Auch politische Entscheide basieren meist nur noch auf Modellen. Die Personen, die Modelle erarbeiten, sind häufig Leute, die im sozialen Umfeld der Praxis versagt haben und sich nun in einem Büro durch viele Projekte unverzichtbar machen müssen. Wie Prof. Bruno S. Frey in der NZZ am Sonntag schreibt, scheint manchmal kaum noch jemand praktisch und produktiv zu arbeiten: „Wir vergeuden viel Zeit und Kraft mit dem Erstellen von nutzlosem Papier in Form von Ranglisten, welche nach irgend welchen undurchsichtigen Kriterien entwickelt worden sind.“ Daraus leitet man aber Rationalisierung, in der Zeit der Globalisierung auch Verbesserung ab. Die Bildung kann sich diesem Trend leider nicht entziehen.

Anders gefragt: Habt Ihr während Eures Studiums noch Zeit, einmal über die partikulare Grenze Eures Fachwissens hinaus mit Kolleginnen und Kollegen über die grundsätzliche, ganzheitliche Existenz nachzudenken? Wann habt Ihr das letzte Mal eine Nacht lang philosophiert, über die vierte oder fünfte Dimension des Raumes oder über Utopia nachgedacht? Dafür haben wir doch alle keine Zeit mehr. Ganzheitliche Bildung aber braucht Zeit und Raum. Was bleibt von dem noch übrig, wenn wir an die ständigen Einschränkungen am Gymnasium denken: Zuerst ein Jahr, dann einzelne Stunden weniger - bei immer grösser werdenden Klassen in einem immer schwierigeren Umfeld. Dafür haben wir eine sich immer stärker ausbreitende Verwaltung, die sich durch Evaluitis und neue Modelle als Expertin betätigt. Warum brauchen z.B. Kindergärtnerinnen einen die Staatskasse aushöhlenden Hochschulabschluss statt eine grundlegende Ausbildung, wie man mit schwierigen Kindern umgehen kann. Der Berufsstatus soll scheinbar erhöht werden, da wir sogenannt gewöhnliche, aber praktisch ausgebildete Lehrkräfte nicht mehr brauchen können. Als Ergebnis dieser teuren Übung reicht das Geld nicht mehr um den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten genügend Zeit zur Verfügung zu stellen, alle Sparten des Fächerkontextes zu pflegen und durch die Aktivierung beider Hirnhälften eben diese ganzheitliche Ausbildung zu ermöglichen. Ist es für die Gesellschaft später wohl billiger, als Fachidioten abgestürzte junge Leute zu resozialisieren, anstatt ihnen heute die Möglichkeit zu geben in der Gruppe zu musizieren oder Sport zu treiben?

Das gleiche gilt übrigens für die Leistungsaufträge der Post und die Globalisierung der Telefonie oder der Eisenbahnsysteme. Qualität ist nicht mehr gefragt, nur am billigsten muss es sein. Weil niemand mehr das Ganze überblicken kann, brauchen wir Experten. Und Experten sind ja bekanntlich Leute, die von immer weniger immer mehr wissen.

So geschieht es heute auch durch die unselige Polarisierung in der Politik: lieber tiefere Motorfahrzeugsteuern als Geld für die Bildung! Niemand denkt mehr an das Ganze.

Ich verzichte hier auf weitere Ausführungen über "vergoldete" Strassenkreisel mit dreifachen Randsteinen und Kunstwerken im künstlich aufgeschütteten Hügel in der Mitte. Könnte hier nicht viel Geld freigeschaufelt werden für die grundlegenden Werte unseres Daseins?

Daraus ergibt sich mein dritter Wunsch: Nehmt Euch die Zeit, ein wenig über das Ganzheitliche zu philosophieren, über den Sinn des Lebens, den Sinn unserer Arbeit, unseres Wohlstands. Im Zusammenhang mit der Maslow-Pyramide haben wir den Grundsatz im Unterricht besprochen: Leben wir um Geld zu verdienen oder verdienen wir Geld um zu leben? Um nochmals Alain de Botton zu zitieren: „Macht man sich erst einmal klar, dass man in ein paar tausend Tagen nicht mehr auf dieser Welt sein wird, wird vieles relativ.“ Nehmt Euch und Euer theoretisches Wissen also nicht zu wichtig! Und solltet Ihr einstmals in der Politik etwas zu sagen haben, dann macht es bitte besser und denkt dabei an das Ganze.

Im Wohlstand überleben

Ihr seid auf dem Höhepunkt der Erkenntnis, dass nur Wachstum und Reichtum, damit Macht und Status den vermeintlichen Fortschritt bringen können, gegen Ende der „Golden Eighties“ geboren worden. Mit dieser Erkenntnis allein können wir heute aber die Probleme unserer Zeit nicht mehr lösen. Vielleicht müssen wir uns alle ein wenig bescheidener geben um das Überleben der ganzen Erde zu ermöglichen. Wir leben vom Kapital unseres Planeten, statt von seinen Zinsen. Ich hoffe, dass solche im Volkswirtschaftsunterricht gemachten Überlegungen dazu führen, dass Ihr Eure Gedanken vor jedem Entscheid trotz notwendiger Spezialisierung auf das Ganze ausrichten könnt.

Eine um ihre Existenz sich sorgende Gesellschaft wartet auf Euch! Je mehr gebildete Leute gesamtheitlich, sozial und ökologisch verträglich zu denken beginnen, desto rascher kann die Verantwortung für die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen wahrgenommen und durchgesetzt werden. Realerweise haben wir nur eine Erde; damit aus Statusangst zu spielen kann gefährlich sein.

Zurück zum ersten Wunsch

Wenn Ihr das begriffen und verstanden habt, könnt Ihr mit gutem Gewissen Euer Wissen aus der Kantonsschule am wunderschönen Vierwaldstättersee mitnehmen. Tragt Sorge zu diesen, unseren Lebensgrundlagen und dem menschlichen Umfeld, damit Ihr weiterhin am Seeufer chillen und ich auf dem See mit seiner wunderschönen Landschaft, auf einem Dampfschiff - ohne Klimaanlage und nur mit Zweiradantrieb - herumgondeln und mich erholen kann, ohne die Statusangst, nicht wenigstens in Mallorca an der Schlacht am kalten Buffet dabei gewesen zu sein.

Ich wünsche Euch Mut den Blick auf das Ganze, auf alle Nebenwirkungen zu bewahren, auch gegen den Strom schwimmend, und das Glück einen ganz kleinen Beitrag zur Verbesserung unserer Lebensgrundlagen leisten zu können.

Macht’s gut und lasst uns, die am Alpenquai Zurückgebliebenen, bei einem Besuch einmal wissen, ob Euch das gelungen ist!

Mag. oec. HSG Jörg Hochstrasser, Fachlehrer Wirtschaft und Recht, Klassenlehrer 6Wa

aktualisiert am 10.11.2004, brief.gif (134 Byte) webmaster