Ansprache an der Maturafeier des Literargymnasiums

 

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Dr. Hans Hirschi, Rektor Obergymnasium

Donnerstag, 23. Mai 2002

 

Eine gymnasiale Eschatologie

Am letzten Schultag der Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen erscholl ein Gesang durch die Gänge des Schulhauses ähnlich den Gesängen der Schlachtenbummler wie sie in den Fussballstadien anzutreffen sind. „Nie meh, nie meh Alpequai“ johlten die Maturandinnen und Maturanden. Vordergründig könnte man in dem Gesang den Ausdruck der Erleichterung darüber sehen, dass nun die sieben Jahre am Alpenquai endlich überstanden sind, dass die letzte Mathematikprüfung geschrieben, der letzte Seneca-Text übersetzt, die letzten 100 Meter auf der Rundbahn gelaufen, das letzte Absenzenproblem geregelt ist. Wenn man jedoch näher hinhört, lassen sich noch andere Töne heraushören, schmerzliche auch, und ängstliche. Eine Zeit ist vorbei, in der man täglich mit seinen Kolleginnen und Kollegen in der Klasse zusammenkommt. Eine Zeit ist vorbei, in der alles seinen voraussehbaren Gang nimmt. Es gibt wirklich keine Rückkehr in den warmen Schoss der Kanti, ausser man besteht die Matura nicht oder wird Lehrer.

Ähnlich zwiespältige Gefühle bewegen in diesen Tagen auch die Lehrerinnen und Lehrer. Zwar johlen sie nicht durch die Gänge. Aber wenn Sie nach der letzten Lektion die Schulzimmertür schliessen, denken sie vielleicht „Nie meh, nie meh 7Lc“.

Es ist ein kritischer Moment für alle, dieser Moment, in dem die Reife der Schülerinnen und Schüler öffentlich attestiert werden soll und sie überwechseln in eine neue Lebensphase. Und es ist wohl nur auf den ersten Blick abwegig, die Maturafeier zum Anlass zu nehmen, über die letzten Dinge zu sprechen. Denn dies möchte ich nun tun. Sie, liebe Maturae und Maturi, haben mich mit Ihrem Gesang dazu animiert. Religiös-kulturgeschichtlich Versierte unter Ihnen wissen, dass es in den Religionen einen Traktat über die letzten Dinge gibt: die Eschatologie. Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen umschreibt den Begriff „Eschatologie“ wie folgt: „Eschatologie (griech., eschatos, ‚letztes‘). Das was sich mit den letzten Dingen beschäftigt, dem endgültigen Schicksal sowohl des einzelnen als auch der Menschheit im allgemeinen sowie des Kosmos.“ Eine Eschatologie, eine Rede über die letzten Dinge, möchte ich Ihnen also heute vortragen. Doch befasse ich mich nicht mit den letzten Dingen überhaupt, sondern, der Situation angemessen, bloss mit den letzten gymnasialen Dingen. Sie hören nun also gewissermassen eine partikuläre Eschatologie, eine gymnasiale Eschatologie. Als Raster allerdings dient mir der klassische Eschatologie-Traktat der christlichen Theologie. Ich halte es für angezeigt, mich an das zu halten, was ich kenne. So hören Sie nun also von Ende und Gericht, von Fegfeuer, Himmel und Hölle.

Ende und Gericht

Der Eschatologie-Traktat ist vielleicht der dramatischste der Theologie. Dies liegt wohl daran, dass er nicht einfach die letzten Dinge einer endlichen Folge zum Thema macht, sondern sich mit der Endgültigkeit der gesamten Folge beschäftigt. Eine gymnasiale Eschatologie wird sich also nicht mit letztem Schultag, Maturaprüfung, -feier und -fest befassen, sondern mit dem was von der gymnasialen Ausbildung im Hinblick auf das gymnasiale Jenseits von Bedeutung ist. Die gymnasiale Ausbildung ist mit der Matura endgültig abgeschlossen. Es kann Bilanz gezogen werden, definitiv. Was wird dem Gericht standhalten, das am Übergang vom gymnasialen Dieseits zum Jenseits steht? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss geklärt werden, was denn das für ein Gericht ist, das an dieser Schwelle steht.

Spontan werden Sie an die Maturaprüfungen denken, haben doch vor allem die mündlichen Examen von ihrer Anlage her etwas Forensisches an sich. Doch wenn Sie so gedacht haben, irren Sie sich fundamental. Denn die Maturaprüfungen gehören eindeutig zum gymnasialen Diesseits. Das Gesetz, das in ihnen angewendet wird, ist nicht dasjenige des künftigen Lebens. Eine gymnasiale Eschatologie muss jedoch ein Gericht postulieren, dessen Kriterien jenseits des real existierenden Gymnasiums liegen und an denen es sich messen lassen muss. Wie in der theologischen Eschatologie sind auch in der gymnasialen Eschatologie die Kriterien des Gerichts im Grunde einfach und allgemein bekannt. Ist es in der christlichen Eschatologie die Nächstenliebe, so in der gymnasialen die „Studierfähigkeit und die Lebenstüchtigkeit“, um Rolf Dubs‘ prägnante Fassung der gymnasialen Bildungsziele zu zitieren. Das Leben nach der Matura selber wird also das Gericht sein, das über ihre Gymnasialzeit urteilen wird. Wenn Sie nun die Schwelle überschreiten von der Kanti „ins Leben hinaus“, wird sich offenbaren, ob diese ihre Schule und Sie selber den Grundzielen gymnasialer Bildung nachgelebt haben oder nicht. Wie im jüngsten Gericht jegliche Frömmelei und Heuchelei entlarvt wird, so wird sich in Ihrem neuen Lebensabschnitt zeigen, ob Sie bloss den Anschein erweckt haben, etwas zu lernen oder ob Sie sich wirklich gebildet haben. Der Richter im gymnasialen Jenseits wird Sie fragen: Hast du nur gelernt, um die Prüfungen zu bestehen oder ging es dir darum, deine eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln?


Graphik: Luzia Studhalter 7Lc

 

Hast du das Wissen bloss gespeichert oder hast du es persönlich weiterverarbeitet, so dass es zu einem Teil deiner selbst geworden ist? Aber auch die Schule wird vor den Richterstuhl Ihres künftigen Lebens gezogen. Sollte sich herausstellen, dass Sie, liebe Maturae und Maturi, trotz persönlicher Anstrengung Studierfähigkeit und Lebenstüchtigkeit nicht erlangt haben, sondern dass Ihre Schule sie dazu verführt hat, Ihre Zeit mit überflüssigen Problemen und Spitzfindigkeiten zu vergeuden, müsste Sie dafür gerade stehen. Dass der Lernprozess in falsche Bahnen geraten kann, ist nicht eine Erkenntnis zeitgenössischer Schulevaluatoren und Qualitätssicherern. Die Gefahr falscher Gelehrsamkeit, die nur gelehrt aber nicht gut macht, hat bereits Seneca beklagt, wenn er im 106. Brief an Lucilius schreibt: „non vitae, sed scholae discimus“ (nicht für das Leben, für die Schule lernen wir).

Läuterung

Liebe Maturae und Maturi, Sie haben nur ein gymnasiales Leben. Dieses ist entscheidend für Ihre Lernbiographie. Es gibt keine gymnasiale Wiedergeburt. Wie prägend die gymnasialen Jahre sind, kann man erst im Abstand von Jahren oder Jahrzehnten ermessen. Sie können es nachlesen bei Schriftstellern, die ihre Gymnasialzeit literarisch verarbeitet haben. Und doch ist das Gymnasium nicht alles entscheidend. Analog zur göttlichen Gnade im Gericht gibt es die Gnade des Lebens. Es gibt glücklicherweise Möglichkeiten, die eigene Bildung auch nach dem Gymnasium zu läutern und zu vervollkommnen. Sie müssen jedoch damit rechnen, dass dies ein schmerzlicher Prozess ist, verbunden mit Ent-täuschungen im wörtlichen Sinn und Anstrengungen, ein Fegfeuer eben.

Himmel und Hölle

Der Himmel und vor allem die Hölle haben die Phantasie mittelalterlicher Eschatologen besonders angeregt. Künstler haben ihre Vorstellungen bildnerisch umgesetzt. Moderne Eschatologen halten sich eher an eine Art Bilderverbot. So will ich es denn auch in meiner gymnasialen Eschatologie halten. Weder will ich Ihnen am heutigen Abend die Hölle heiss machen, noch den Himmel versprechen. Wenn es um eine definitive Beurteilung des Erfolgs gymnasialer Bildung geht, versagt die Analogie religiöser und gymnasialer Eschatologie. Es gibt keinen gymnasialen Himmel und keine gymnasiale Hölle. Vielleicht müssen wir eher davon ausgehen, dass die gymnasiale Eschatologie an diesem Punkt in die religiöse mündet. Denn im Unterschied zu rein funktional verstandenen Ausbildungen, die auf konkret anwendbare Fertigkeiten und Kenntnisse zielen, stellt die gymnasiale Ausbildung seit je den Menschen als solchen und seine Entfaltung ins Zentrum. Die gymnasiale Bildung darf deshalb nie bloss im Dienste kurzfristiger wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Interessen stehen. Sie zielt auf eine Steigerung des Menschseins überhaupt ab. Die religiöse Eschatologie, recht verstanden, hält den Wunsch nach einem geglückten Menschsein in unvollkommenen Verhältnissen wach und bewahrt vor seichtem Pragmatismus. Wenn die nun erworbene gymnasiale Bildung Sie befähigt und ermuntert, die Frage nach dem guten Leben stets neu zu stellen, dann, so vermute ich, haben Sie sowohl die Lebenstüchtigkeit als auch die Studierfähigkeit im Sinne der Fähigkeit, ein Leben lang zu lernen, erworben und damit die gymnasialen Bildungsziele erreicht. Dass Ihnen immer wieder auch Antworten auf die Frage nach dem guten Leben zukommen, wünsche ich Ihnen am heutigen Abend von Herzen.

Rückkehr

Die Analogie zwischen religiöser und gymnasialer Eschatologie hat eine weitere Grenze. Es gibt eine Rückkehr aus dem gymnasialen Jenseits. Von den Toten ist noch keiner zurückgekommen, um uns zu berichten, wie sein Leben im Jenseits gewogen wurde. Sie, liebe Maturae und Maturi, können zurückkommen und uns Zurückgebliebenen berichten, welche Erfahrungen Sie mit Ihrem gymnasialen Rucksack „im Leben“ gemacht haben. Ich garantiere Ihnen, dass wir Sie nicht als Gespenster verjagen werden, wenn Sie zurückkommen. Vielmehr werden wir dankbar von Ihren Erfahrungen profitieren wollen. Doch nun wollen wir Sie hinübergeleiten über den Styx, der das gymnasiale Diesseits vom gymnasialen Jenseits trennt. Aber noch einmal: Denken Sie daran, über diesen Styx gibt es einen Fährverkehr in beide Richtungen!

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aktualisiert am 4.7.2002, brief.gif (134 Byte) webmaster